Ein kleiner Bruder ist da, ein „nerviges Äffchen“, das schreit, gestillt wird oder kackt. Da Mama sich nur noch ihm widmet, kündigt die größere Schwester an, sich ein neues Zuhause zu suchen, und geht. Im Müll findet sie einen Pappkarton, schreibt darauf „Kind zu verschenken“ und (er)wartet, dass jemand Nettes sie mitnimmt. Nach ersten Misserfolgen versucht sie, für sich zu werben, nimmt drei wohnungslose Tiere auf und zieht zum belebteren Bahnhof um. Während sich hier die Zuhause-Wünsche von Hund, Katze und Schildkröte erfüllen, wird das Mädchen von niemandem beachtet. Als überraschend seine Eltern auftauchen und sich ihm zuwenden, ist es bereit, seine Position als große Schwester anzunehmen.
Itos originelle Geschichte, die auch Erwachsenen einen Spiegel vorhält, fängt meisterlich den Seelenschmerz vieler erstgeborener, sich zurückgesetzt fühlender Geschwisterkinder ein. Psychologisch stimmig ist dieser Schmerz bei seiner kleinen, namenlosen Ich-Erzählerin mit übersteigerten, egozentrischen Familienvorstellungen verknüpft („Bestimmt ist mein neues Zuhause ein schönes Haus mit einem großen Garten …“ / „Mit einer Mama und einem Papa, die nur mich liebhaben“). Zugleich stattet der Autor seine Protagonistin mit Entschlussfähigkeit, Kreativität, Tatkraft und Durchhaltevermögen aus. Wie weit das Mädchen mit seiner Idee kommt, ist spannend zu lesen. Leichtigkeit und Vergnügen garantieren dabei die kunstvoll einfachen Sätze und spritzig-witzigen Dialoge in fiktiv-kindlicher Ausdrucksweise.
Die verlegerische Reihengestaltung für Erstleser kommt Hiroshi Itos Buch entgegen. Nicht nur auf dem Cover, auch auf den Seiten im Innenteil sind mehr oder weniger geringe Textanteile nebst zahlreichen Illustrationen vor großzügig weißen Hintergründen angeordnet. Dabei fällt der Blick stets zuerst auf die Bilder, gehalten im ganz eigenen, an Kinderarbeiten erinnernden Stil: Mittels klar konturierter, teils skizzen- oder cartoonhafter Zeichnungen in Schwarz-Weiß-Rot deutet Ito Umgebungen an und vermag in Haltungen und Gesichtern ganze Gefühlswelten darzustellen.
Aufgrund dieser Ausdrucksstärke ließe sich die Geschichte allein anhand ausgewählter Bilder assoziieren. Ein bisschen zu lesen wäre dabei dennoch: etwa die Beschriftung(en) des Pappkartons oder ein paar in Bilder integrierte Phrasen. Beim Vorlesen könnte man innehalten, wenn Kind und Tiere zusammen oder zuletzt das Kind allein auf eine „tolle Familie“ hoffen, und die Zuhörenden erfinden lassen, wie deren Geschichte jeweils weitergeht. Was wünschen sie sich für das Mädchen?