„Kirchturm im See!“, ruft Joan, der auf der Autofahrt in den Sommerurlaub vorn auf dem Beifahrersitz neben Ma sitzen darf. Die Strecke schlängelt sich durch die Berge, an einem See vorbei. Auf der Rückbank versucht Papa, sich mit Joans großer Schwester zu unterhalten. Die vergräbt sich genervt in ihren Comic. ‚Kirchturm im See ist Quatsch‘, denkt sie. Doch schon einen Moment später sieht auch sie die Kirchturmspitze aus dem Wasser ragen. Beim Halt am See erklärt die Große dem Kleinen: „Früher war hier ein Dorf.“ Und dass die Menschen einen Staudamm bauten und das Dorf fluteten. „Wer wohl im Dorf im See lebt?“ Gemeinsam malen sich die Geschwister aus, wie die Fische in der Tiefe Laternenumzüge veranstalten und Funken sprühende Feste feiern. „Kindergarten ist toll da unten“, meint Joan und seine Schwester ist sich sicher, dass es dort keine Schule gibt, weil die Kreide ja auf der Tafel verwischen würde. Als Joan Schnorchel und Taucherbrillen holt, um dem Dorf der Fische einen Besuch abzustatten, bleibt die Schwester doch lieber an Land …
In kurzen, prägnanten Sätzen erzählt Daniel Fehr aus der Ich-Perspektive der namenlosen älteren Schwester, die lieber nicht über „Schule oder Noten oder nicht-so-besonders-gute Noten“ reden will, aber vom Kirchturm im See offensichtlich beeindruckt ist. Die dialogisch fantasierte Unterwasserwelt spiegelt gleichsam die unterschiedlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte der beiden Kinder als auch deren geschwisterliche Verbundenheit wider.
Pei-Yu Chang eröffnet in ihren Illustrationen zunächst einen überschauenden Blick auf das Geschehen. So ist auf einer textlosen Doppelseite die Familie bei den Urlaubsvorbereitungen zu sehen. Die Erklärung, wie und mit welchen Folgen der Staudamm gebaut wurde – alle Dorfbewohner mussten ihr Zuhause verlassen –, fasst sie auf einer Doppelseite in comicartigen Panels sachlich-knapp zusammen. Den Dialog der Geschwister wiederum gestaltet sie detailreich-verspielt über ganze zehn Seiten hinweg.
Gleich den türöffnenden Fischen auf der Titelseite lädt Chang in eine Unterwasserwelt ein, die sie aus scherenschnittartigen Farbflächen, filigranen Zeichnungen sowie Umriss- und Vollzeichnungen zusammensetzt. Dazu collagiert sie Postkartenmotive von alpinen Landschaften in die Hintergründe und lässt historische Fotomotive zu surrealen Details werden. Geschickt greift Chang auf, was die Kinder erleben: Realität und Fantasie verschwimmen.
In einer Veranstaltung könnte das Unterwasserleben wunderbar weitergesponnen und in Collagen im Stil des Buches umgesetzt werden. Auch ließe sich der Aspekt des Staudammbaus anhand von Fotos des norditalienischen Reschensees, dem realen Ort, aufgreifen, um gemeinsam über den Einfluss eines solchen Projekts auf Natur und Menschen nachzudenken.