„Nicht einmal unsere Motorboote fahren so enge Kurven.“ Naná, die an einem Seitenarm des Amazonas, dem Urubu, lebt, beobachtet einen Jungen. Dieser steuert ein mit Menschen und einem Faultier voll besetztes Kanu. Geschickt paddelt er den Fluss entlang, umfährt unzählige im Wasser treibende Baumstämme. Ein paar Tage später kommt dieser Junge in Nanás Klasse und sie freunden sich an. Naná wundert sich, dass Kayabu im Laden mit einem Fisch „bezahlt“ und unter freiem Himmel im Kanu schläft. Als er Naná zu sich nach Hause einlädt, erfährt sie, was seine Familie ins Dorf geführt hat: Mitten im Regenwald, wo sie gelebt hatten, waren Bäume gefällt worden. Eines Tages kam zum Motorengeräusch der Sägen noch der beißende Geruch von Rauch. Alle, auch die Tiere, flohen vor dem herannahenden Feuer. Monatelang reiste die Familie mit dem geretteten Faultier Taquá umher, bis sie endlich in Nanás Dorf kamen. – Doch bleiben will die Familie hier nicht.
Mit „Kayabu“ erzählt die Künstlerin Eymard Toledo, in überschauendem Text und mit eindrucksvoll komponierten, dreidimensional wirkenden, farbkräftigen Papiercollagen, eine komplexe Geschichte über das Leben. Den eigentlich schlammfarbenen Fluss gestaltet sie in satten, leuchtenden Grüntönen, der Farbe der Hoffnung. Toledo lässt zwei Kinder einander begegnen, die sehr verschieden aufwachsen. Über ihre Freundschaft lernen beide etwas über die jeweils andere Lebensweise. Während Naná voller Hochachtung ist, dass Kayabu so vieles ganz ohne „moderne“ Technik kann, scheint Kayabu sich über vieles eher zu wundern. Er kennt weder Uhren, Angeln, Geld oder bezahlte Arbeit. Stattdessen fängt er Fische mit Pfeil und Bogen, bestimmt die Zeit anhand von Vogelrufen und teilt ganz selbstverständlich mit anderen. Das von Gemeinschaftssinn geprägte gesellschaftliche Gefüge, in dem Kayabu aufgewachsen ist, wird von außen gestört: kapitalistische Mechanismen wirken weltweit, bis in die entlegensten Gebiete. Und so ist diese Geschichte sowohl eine von respektvollem und freundschaftlichem Zusammenleben, als auch eine von Heimatverlust und Vertreibung aufgrund von Globalisierung, Ausbeutung und Umweltzerstörung. Im Schlussbild verdeckt ein riesiges Frachtschiff mit Containern für Japan, die EU oder die USA das kleine Kanu, mit dem Kayabus Familie weiterzieht.
Die Bedrohung der Lebensgrundlage indigener Völker Brasiliens durch Brandrodung und Landnahme kann Thema in Gesprächen mit Kindern sein.
Zum Einstieg in das Buch bietet sich ein Tagebucheintrag von Eymard Toledo an, mit dem sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen während eines Aufenthalts im Amazonasgebiet festhielt: „Amazonien, / dort, wo sich alle verstecken, / Tiere sich vor anderen Tieren verstecken, Tiere sich vor Menschen verstecken, / Menschen sich vor Tieren verstecken / und manchmal sogar vor anderen Menschen“. Wer bestimmt über das Schicksal von Menschen, über den Umgang mit Natur- und Lebensräumen? Mit welchem Recht?