„Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen“ – dies ist eine von 17 Regeln, die ein namenloser Ich-Erzähler am Ende des Sommers glaubt gelernt zu haben. Hinter dem Schlauberger und einem älteren Jungen (Bruder?) liegt augenscheinlich eine Zeit, deren eigene Regeln nur der Ältere kennt und streng überwacht: Sonst drohen überwältigende Konsequenzen. So lockt die rote Socke ein rotes Riesenkaninchen an oder beschwört das Zertreten einer Schnecke einen gewaltigen Tornado herauf. Was alles geschah, zeigen nur die Illustrationen. Als der Kleine gegen den Älteren aufbegehrt, wird er als Bestrafung über drei (textlose!) Doppelseiten aus weißen Häuserschluchten auf eine Fahrt ins Dunkle geschickt. Doch dann verzichtet der Ältere auf eine Belohnung und rettet den Jüngeren. Dieser hat gelernt: „Niemals einen Bolzenschneider vergessen.“ Am letzten Sommertag darf der Kleine endlich auch einmal den Ton angeben. Inmitten einer mit Früchten, Kuchen und Blüten fulminant ausgestatteten Doppelseite marschiert er trötend dem Großen voran. Darf er das, weil er die Regeln gelernt hat oder hat der Ältere eingesehen, dass er zu streng war? Aber: Denkt sich eigentlich der Ältere die z. T. absurden Regeln aus oder handelt er in höherem Auftrag? Was bedeutet die ständige Anwesenheit eines Raben auf jeder Seite?
Überwältigend sind nicht nur die Konsequenzen, die ein Regelverstoß nach sich zieht, sondern auch Tans mit kunsthistorischen Zitaten angereicherte großformatige „Gemälde“, welche eine surreale, von Monstren und Maschinen bevölkerte Welt präsentieren. Die phantastischen Kompositionen in Öl erzeugen trotz anfänglich warmer Farben eine bedrohliche Stimmung: Straßen und Landschaften sind menschenleer, es scheint nur die Kinder, ihren Konflikt und all die Tier-Maschinen-Wesen zu geben, wobei letztere auch z. T. komisch wirken. Proben die Protagonisten in diesem vom Künstler psychologisch und symbolisch mehrdeutig angelegten Spiel eine Art Überlebenskampf? Erscheint ihr (letztlicher) Zusammenhalt dabei als einziger (Aus-) Weg aus einer menschenfeindlichen Welt? Wie in Tans anderen Büchern bieten die vielschichtigen Illustrationen äußerst spannende Erzählanlässe. Die im Sommer „gelernten“ Regeln wiederum, jeweils nur ein Satz, laden dagegen zur Schaffung eigener Bilderwelten ein – schließlich könnte eine vergessene rote Socke auch ganz andere Auswirkungen nach sich ziehen.
(Der Rote Elefant 32, 2014)