„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“ Die dem Roman vorangestellte Warnung des Philosophen George Santayana hat Mirjam Pressler zeitlebens angetrieben, jüdische Geschichte zu erkunden und zu vermitteln. Mit ihrem postum erschienenen Jugendroman tritt sie neuerlich aufgeflammtem Antisemitismus aufklärerisch entgegen und setzt Hoffnung in Verständigung „zwischen Juden und Deutschen“. Der Hintergrund des Romans ist historisch belegt. 1998 wurde in Erfurt unweit der Alten Synagoge ein Schatz gefunden, der 1349 angeblich von dem Geldverleiher Kalman von Wiehe versteckt worden war, bevor er mit seinen beiden Kindern vor einem (Pest-)Pogrom nach Polen floh. Die Mutter der 15-jährigen Laura ist Kunsthistorikerin und kuratiert vor Ort eine Ausstellung des Fundes. Zwar nervt Laura die oft dozierende Mutter, aber die mit dem Fund verbundene „jüdische“ Flucht-Geschichte weckt ihr Interesse, nicht zuletzt wegen Alexej, ihrer ersten Liebe. Laura versteht nicht, warum Alexej, dessen Familie vor den Nazis fliehen musste und ihren Besitz verlor, sein Judentum zu verbergen sucht. Da Laura Gefühle und Gedanken am besten zeichnerisch ausdrücken kann, kreiert sie eine Graphic Novel mit einer Protagonistin namens Rachel, Tochter Kalman von Wiehes. Bild für Bild nähert sich Laura nun Rachels mittelalterlichem Leben und Denken an und „malt“ sich auch deren Flucht aus. Am Ende steht ein (vorläufiges?) MASEL TOW (jid.: Viel Glück bzw. Erfolg).
Vergleicht man beide Erzählstimmen, so spricht die spannend und gleichzeitig poetisch erzählte Geschichte der Rachel, beruhend auf genauer Recherche, stärker das Gefühl an als die etwas konstruiert wirkenden intellektuellen Reflexionen Lauras. Aber Presslers Etablierung zweier gleichaltriger Ich-Erzählerinnen aus Vergangenheit und Gegenwart schlägt eine Brücke ins Heute und führt am Beispiel Lauras einen möglichen Erfahrungsprozess vor. Trotz kapitelweisem Wechsel der Figurenstimmen bleiben die Erzählstränge miteinander verbunden, z. B. über das Motiv der ersten Liebe, die Laura und Rachel beide erleben, oder das der Flucht, die Alexejs und Rachels Familie gleichermaßen betrifft. Auf diese Weise vermittelt Pressler jüdische Lebens- und Leiderfahrungen über Jahrhunderte bis hin zur Verleugnung jüdischer Identität trotz Festhaltens an jüdischen Psalmen und dem Verlust engster Angehöriger oder des eigenen Lebens. Im Nachwort liefert sie zusätzlich einen komprimierten Abriss der „Vorgeschichte des heutigen Antisemitismus“. Mögen zahlreiche Vermittler und Leser*innen Mirjam Presslers Vermächtnis annehmen!
(Der Rote Elefant 37, 2019)