In Omas Ahnengalerie, präsentiert auf gelb-rosa-gestreifter Blumentapete, hängt neben Bildern von bärtigen Männern und Frauen mit Hauben auch das Bild eines Jungen im Matrosenanzug. Anna weiß: Oma erzählt nichts lieber als Familiengeschichten. Und so erfährt Anna von Wilhelms Reise nach Amerika. Damals, 1872, war Wilhelm 14 Jahre alt. Als Schnitzer im Spessart arbeitslos, folgte er der Werbung ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dazu musste er zuerst nach Bremerhaven, 14 Tage dauerte das: zu Fuß und per Eisenbahn. Das Geld für die Überfahrt kam aus der Armenkasse. Oma weiß viel über Wilhelms Reise, denn sie besitzt einen „Schatz“: Wilhelms Notizbuch, in das er alle Eindrücke mit dem Bleistift festhielt, ein Abschiedsgeschenk seines Werkstattleiters. „Mach Dir die Welt zeichnend zu eigen …“ stand darin und das tat Wilhelm. Er skizzierte während der sechswöchigen Überfahrt pausenlos: Schiffe, das Meer, zusammengepferchte Menschen, Seekranke, Ungeziefer, zum Schlachten bestimmte Tiere, die Besatzung, eine Schiffstrauung, nautische Geräte, Schiffsknoten, phantastische und reale Meeresbewohner …
Mit Betreten amerikanischen Bodens endet Wilhelms Reise, doch eine Postkarte von Oma gibt weitere Auskunft: Wilhelm fasste Fuß, arbeitete auf Werften, sparte Geld und kehrte sechs Jahre später nach Deutschland zurück, wo er sich in Hamburg niederließ. Wilhelm war Annas Ururopa.
Das großformatige, altersoffene, vielseitige Sachbilderbuch, gedruckt auf bräunlichem Papier, mit nur blass colorierten Doppelseiten und Texten in z. T. alter Schreibschrift, ist gestalterisch nostalgisch angelegt. Aber schnell wird klar, dass es nicht um ein erfolgreiches individuelles Auswandererschicksal bzw. eine abenteuerliche Schiffsreise geht, sondern „Auswanderung“ historisch-sozialkritischpolitisch betrachtet wird. (Fiktive) Rahmengeschichte und historische Hintergründe wurden von Anke Bär im museumspädagogisch sinnlich hervorragend konzipierten „Deutsche(n) Auswandererhaus Bremerhaven“ detailliert recherchiert. Gerahmte Sachtexte, Randnotizen auf Rechenpapier, handgeschriebene Kommentare und ein Ausblick, was Einwanderer in der Neuen Welt erwartete, ergänzen „Wilhelms“ bzw.
Bärs überaus eindrucksvolle, abwechslungsreiche Illustrationen. Figurenstudien und -gruppen sind von hoher zeichnerischer Qualität. Insgesamt wird deutlich, was Auswanderung bedeutete und wie viele Hoffende in der neuen Welt scheiterten. Diese Botschaft, untersetzt durch die ausführliche „Chronologie der deutschen Auswanderung nach Amerika“ im Anhang, führt direkt ins Heute.
Die Metaebene „Wilhelm“ schafft über den historischen Abstand einen Einstieg und fordert geradezu heraus, heutige Auswanderergeschichten ebenfalls in Text und Bild festzuhalten. Das kann die eigene Familie betreffen, Familien von Freunden oder Nachbarn.
(Der Rote Elefant 30, 2012)