Alice Andersen leidet unter extremer Schüchternheit und denkt um sieben Ecken. So sieht sie Probleme und Gefahren, wo andere überhaupt keine sehen, z. B. wenn man ein klebriges Stück Bienenstich in der Öffentlichkeit isst. Gerade beschäftigen sie zwei große Risiken: Da ist einerseits das Schultheaterstück, in dem sie glücklicherweise nur als Pferdehinterteil besetzt ist, aber leider auch als Notfallbesetzung für die Prinzessinnen-Hauptrolle.
Andererseits weiß sie nicht: Ist Iver nun ihr Freund oder nicht? Mit einer wie ihr könnte man eigentlich ganz gut befreundet sein, aber Iver ist der Nachbarsjunge und läuft mit ihr täglich nur zur Schule, weil er ihr Nachbar ist, oder? Am liebsten versenkt sich Alice in Bücher, da kann ihr nichts passieren. Trotz Alice‘ etwas abwegigen Gedankenausflüchten und Wünschen nach plötzlich eintreffenden Wundern – so wie in Alice‘ Wunderland oder in der Bibel, die aber eher selten an ganz normalen Morgen auf ganz normalen norwegischen Schulhöfen geschehen – tritt der Worst Case ein: Die Darstellerin der Prinzessin fällt aus! Außerdem kommt es zum Streit mit Iver, woran Alice nicht ganz unschuldig ist. Am Ende bleibt Alice nichts weiter übrig, als auf die Bühne hinauszugehen. Da Iver die zweite Hauptrolle spielt, kann sie beide Probleme auf einmal angehen und schließlich – immer noch schüchtern, aber das darf so sein – erfolgreich abtreten.
In Lians etwas skurriler Heldin können sich schüchterne Kinder durchaus wiederentdecken, wobei die leicht komische Überzeichnung Alice‘scher Gedankenspiele und Verhaltensweisen eine wohltuende Distanz ermöglicht. Die witzigen Illustrationen von Øyvind Torseter begleiten die Geschichte und machen Alice‘ Gefühlszustände mit wenigen Strichen sichtbar. Neben den Themen Schüchternheit und Freundschaft bietet das Buch Denkanstöße zur Auseinandersetzung mit „Wirklichkeit“ und „Wahrnehmung“. Wenn auch in der Wirklichkeit keine Wunder geschehen, gibt es doch verschiedene Perspektiven auf dieselbe, die verschoben und verändert werden könnten. Dazu gehört, Dinge mehr oder weniger positiv zu sehen oder sich mal die Schuhe des Anderen anzuziehen. So tastet Alice feine Unterschiede sprachlicher Bedeutungen ab: Ist Iver entspannt oder trödelig? Ist die Oma sonderbar oder besonders? Die Familie nervig oder lustig? Sie selber schüchtern oder feige, eingebildet oder realistisch? Wer bewertet was und was hat dies mit dem Bewertenden selbst zu tun? entsprechende Fragestellungen und ausgewählte Illustrationen liefern reichlich Anlässe für Gespräche, um über Bewertungen und Definitionen, Selbst- und Fremdbilder nachzudenken.
(Der Rote Elefant 38, 2020)