Eine junge Frau in Männerkleidern erwacht aus einer Ohnmacht in einem afghanischen Frauengefängnis. Ursache für die Inhaftierung ist ihre Geschichte als „bacha posh“: Ihre muslimischen Eltern ließen sie als Junge unter dem Namen Amin aufwachsen, um dem Vater einen „männlichen“ Nachkommen und Arbeitshelfer zu sichern. Armut und fanatisch-religiöse Hörigkeit herrschen in der Familie. Stiefschwester Nina wurde zwangsverheiratet und von ihrem islamistischen Mann misshandelt. Die Geschwister fliehen nach Kabul, wo sie bei demokratisch gesinnten Verwandten einen Zufluchtsort finden. Amin, der über die Jahre die Vorzüge des Daseins als Junge im patriarchalen System kennengelernt hat, wird nun angehalten Amina zu werden und Frauenkleider anzulegen. Innerlich zerrissen und die Grenzen von Freiheit abwägend, sucht die Jugendliche einen Weg, je nach sozialem Umfeld, mit der Identität als Frau oder Mann zu leben. Denn Amin(a) sieht sich in der Verantwortung für die Versorgung der verarmten Eltern und jüngeren Geschwister, die zum Erhalt der Familienehre ihr Dorf verließen und jetzt in einem Kabuler Lager leben.
Der Jugendroman überzeugt durch seinen nicht moralisierenden Erzählstil und die glaubhafte Figurenkonstruktion, insbesondere durch die aus der Ich-Perspektive Amin(a)s rückblickend erzählte Geschichte, die immer wieder (auch typografisch) unterbrochen wird durch kurze, von Dialogen geprägte Szenen, die sich im Frauengefängnis ereignen.
Carolin Philipps lässt die Mitgefangenen anteilnehmend kommentieren und zudem Einblick in das eigene Schicksal geben. Geschickt eingeflochten sind Verse des großen persischen Dichters Rumi, die Bestandteil des kulturellen Erbes Afghanistans sind. Spürbar ist eine gründliche Recherchearbeit der welterfahrenen Autorin über die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan. Zur Orientierung helfen ein Glossar und Informationen über die jüngste Geschichte des Landes. Die in ihren Büchern stets für Toleranz werbende Autorin liefert ein hochaktuelles Buch über Genderfragen und die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter: Themen, die sich in einem Land wie Afghanistan – wo die Ehre der Familie über allem steht – schnell mit der Frage nach dem Überleben verbinden und die Flucht (in demokratische Länder) erklären. Das Buch ruft die derzeit viel zu wenig medial präsenten Gewalttaten und totalitären Herrschaftsansprüche der Taliban in Erinnerung und macht durch die dargestellten Frauenfiguren zugleich Mut für Aminas Traum „von einem Afghanistan, in dem die Rechte der Frauen nicht nur auf dem Papier stehen und jede Frau sich frei bewegen kann wie ein Mann.“
(Der Rote Elefant 38, 2020)