Zikade arbeitet seit langem in einer „Menschen“-Firma, macht nie Fehler, ist nie krank. Zikade darf die Bürotoilette nicht benutzen, kommt nicht an die Fahrstuhlknöpfe, muss viel laufen – jede Fehlminute wird vom Gehalt abgezogen. Da letzteres nicht für eine Wohnungsmiete reicht, schläft Zikade in einer Büronische. Was andere nicht schaffen, erledigt Zikade abends – Tritte und Beleidigung sind der Lohn dafür. Als Rentner steht Zikade vor dem Nichts – und dann auf dem Hochhausdach …
Politischer und gesellschaftskritischer denn je, gestaltet Shaun Tan auf magisch-surreale Weise das düstere Abbild einer ausschließlich profitorientierten Welt, in der Ausbeutung, Rassismus und Exklusion von Unterprivilegierten herrschen.
Seine Kritik drückt Tan in eindrucksvollen Ölbildern aus, in deren Grautönen Zikades grüner Insektenkopf – fast hoffnungsvoll und doch verloren in einem ebenfalls grauen Anzug – der einzige Farbkontrast ist. Erst am Ende signalisiert ein leuchtend-warmes Rot-Orange, dass die Zustände sich ändern müssen. Innerhalb seiner grauen Bilderwelt verstärkt Tan die bedrückenden Motive mit schroffen Linien, dramatischen Hell-Dunkel- Effekten und extremen Perspektivwechseln. So z. B. wenn Zikade in einem der vielen Büroquader allein arbeitet, zu Abend isst oder, von „gesichtslosen“ Kollegen gequält, am Boden liegt. Fokussieren bereits die Bilder auf den Helden, so tut dies auch der auktorial erzählte Text. Die abgehackten Sätze bilden Vierzeiler, die stets auf „Tack, Tack, Tack“ enden. Diese lassen an monoton-getaktete Arbeitsabläufe denken, aber auch an die reduzierte Sprache „billiger“ fremdländischer Arbeitskräfte.
Neben der eindeutigen Kapitalismuskritik wartet Tan aber auch mit Irritationen auf. Warum wählte er als Unterdrückungsobjekt ein Insekt, wo bestimmte Finanzkapital-Vertreter doch als „Heuschrecken“ verschrien sind? Ist die Ähnlichkeit des Hochhausmeeres auf dem Vorsatzpapier mit dem Berliner Holocaust-Denkmal Absicht? Korrespondiert dies möglicherweise mit antisemitischen „Ungeziefer“-Zuschreibungen? Und: Liegt die Befreiung aus einer unerträglichen Situation wirklich nur in der Hand (bzw. der Natur) derer, die darunter leiden, wie das Buchende suggeriert, oder gibt es auch Instanzen mit politischer Verantwortung?
Für bereits ältere Leser*innen bietet das Buch diese und andere spannende Fragen und regt damit zum Nach- und möglicherweise Umdenken an. Bezüge zu Figuren der Weltliteratur – Hermann Melvilles Bartleby oder Franz Kafkas Gregor Samsa – können mit älteren Kindern oder Jugendlichen hergestellt werden. Jüngere Kinder werden sich schnell mit dem kindlich wirkenden Helden identifizieren, kennen sie doch das Gefühl, klein zu sein und ausgenutzt – vielleicht sogar gemobbt – zu werden.
(Der Rote Elefant 38, 2020)