Eigentlich wollte Joseph nur sein Taschengeld aufbessern, indem er für die Nachbarin den Rasen mähte. Aber dann kamen beide ins Gespräch, über dies und jenes, auch darüber, dass Joseph für die Schule das Portrait einer lebenden Person zeichnen muss. Eigentlich kein Problem, Joseph ist künstlerisch begabt. Doch die Nachbarin schlägt ihren Bruder Tom vor, einen Mann, der seit 30 Jahren fast nur im Keller lebt und über den die merkwürdigsten Gerüchte umlaufen. Joseph stimmt trotzdem zu. Nach und nach entsteht zwischen den beiden ungleichen Menschen ein Vertrauensverhältnis. Joseph erfährt etwas über das Schicksal Toms, der als Australier für die USA in Vietnam war, über Toms Bücher und dessen merkwürdige Seidenraupenzucht. Tom ist aber nicht der einzige, dem leben schwer fällt. Joseph selbst leidet darunter, dass er seinen Vater kaum kennt, den es immer wieder auf gefährliche Baustellen in aller Welt zieht und er fürchtet sich vor dem Running Man, der vor sich selbst davonläuft, weil er einmal zu spät kam, um seine Familie zu retten. Doch letzteres erfährt Joseph erst durch Tom.
Die Geschichte beginnt mit Toms Beerdigung und mündet darin. Figurenkonstellation und Problematik erlauben kein Happy End. Die Personen müssen mit ihren Schicksalsschlägen leben und sich immer neuen Herausforderungen stellen. So wie Joseph bei seinen Zeichnungen das genaue Hinsehen lernt, so plädiert auch das Buch dafür, anderen Menschen unvoreingenommen zu begegnen, ihnen zuzuhören und danach zu fragen, was hinter gängigen Vorurteilen steckt. Viele Motive, etwa das der Seidenraupenzucht, erhalten eine symbolische Bedeutung, verstärkt durch Zitate aus Gedichten (John Milton, William Blake). Auch wenn der Autor manchmal dazu neigt, literarische Bilder unnötig zu strapazieren („Die Frage brach in das Zimmer ein wie ein wildes Tier, das aus einem Käfig entkommen ist“), erzählt er hauptsächlich eine starke Geschichte. Der durch den Vietnam-Krieg traumatisierte Tom hat immer wieder einen Albtraum von einem brennenden Baum, in dem eine Eidechse stirbt. Im Kontext wird das zu einem Bild für die Napalm-Angriffe gegen Nordvietnam. Es bleibt dem Leser überlassen, die Parallelen in der Realität zu finden. Dabei kann er der jugendlichen Hauptfigur Joseph folgen, der versucht, die dunklen Geheimnisse zu verstehen.
(Der Rote Elefant 26, 2008)