Der Schwarz-Weiß-Kontrast ist das bildnerische Mittel der Künstlerin, um mit meisterhafter Einfachheit ihre Kindheit im revolutionären Iran als Comic darzustellen. Und das, was sie in das Spannungsfeld von Schwarz und Weiß bannt, lebt von leisen Zwischentönen und Bedeutungsnuancen, die sie etwa durch eine angehobene Braue oder einen abfallenden Mundwinkel einzufangen weiß – Nuancen, die auch in ihren drastischen Geschichten nicht fehlen.
Im 1. Band von „Persepolis“ (Comic des Jahres 2004) erzählt Marjane Satrapi, geboren 1969, aus Sicht des Kindes von den Einschnitten, die sie durch die revolutionären Umwälzungen am eigenen Leib erfährt, gemildert durch den Schutz der Familie. Im fortschrittlichen Elternhaus gehen pro-westliche Anschauungen Hand in Hand mit einer selbstverständlichen Verwurzelung in der iranischen Tradition. Die Überlebensstrategie in der sich zunehmend als Diktatur herauskristallisierenden islamischen Republik zeigt sie in markanten Situationen. Angesichts der Gefahr, von den Sittenwächtern wegen ihrer zu engen Jeans verhaftet zu werden, ist es der geschickte Umgang mit einer Notlüge, der ihr die Tür zur Freiheit öffnet. Auch der bittere Ernst der Verfolgung missliebiger Personen bricht über die eigene Familie herein, als der geliebte Onkel Anush, der zeitlebens für seine linke Utopie gekämpft hat, liquidiert wird. Aber in der kindlich überhöhten Hommage an den Lieblingsonkel schwingt auch ironische Distanz mit, die den Blick freigibt auf das ungebrochene Patriarchat, welches das familiäre Beziehungsgeflecht durchwebt.
Satrapi verdichtet am eigenen Leib erfahrene Geschichten zu Anekdoten und versieht diese mit markanten Kapitelüberschriften, die für die Leser „die große Geschichte anhand der kleinen Geschichten“ entschlüsseln. Satrapi orientiert sich an der orientalischen Erzähltradition, worin stets das kleinere Ornament als Teil des große Teppichmusters wirkt. Einsprengsel von Miniatur-Geschichtsstunden liefern auf unterhaltsame Weise den nötigen Hintergrund zum Verständnis der Lage im Iran. In der Schar der uniform islamisch-vermummten Schulkameradinnen z.B. wird durch eine Haarlocke hier und einen Leberfleck dort die Individualität der Einzelnen angedeutet. Zwischen der täglich in der Schule verabreichten Dosis Ideologie und dem Vertrauen in die kritischen Eltern sucht Marjane ihren Weg. Dieser Weg einer sich gegen alle Hindernisse entwickelnden Persönlichkeit ist das eigentliche Thema dieses als Comic getarnten Entwicklungsromans. Von den Eltern, die sich als Repräsentanten des gebildeten Mittelstands in einem zunehmend fundamentalistischen Umfeld isoliert fühlen und resignieren, wird Marjane, um sich frei zu entwickeln, zu einer Freundin der Familie nach Österreich geschickt.
Diese Geschichte erzählt der zweite Band. Das Sich-Lösen aus dem schützenden Familienverband ist der hohe Preis, den sie auf ihrem Entwicklungsweg zahlt: Bekanntschaft mit der Drogenszene, enttäuschte Liebe und Abstieg in die Obdachlosigkeit. Mit dem Wegfall des iranischen Bezugsrahmens in Österreich verliert der zweite Band deutlich an atmosphärischer Dichte. Gleichzeitig fängt Marjane damit aber ihre eigene Verlorenheit in der Fremde ein. Mit diesem Thema, die innere Zerrissenheit eines Menschen zu zeigen, der sich zwischen zwei Kulturen orientieren muss, erzählt der zweite Band mit seinen „kleinen Geschichten“ die ganz große Geschichte unserer Zeit: die der Kulturemigranten und Heimatlosen, die ihre Heimat in sich selbst finden müssen.