Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im oberbayerischen Penzberg 16 Menschen ermordet. Hintergrund dieses „Endphasenverbrechens“ war ein Appell der „Freiheitsaktion Bayern“ im Reichssender München am „28. April 1945, 6 Uhr morgens“, der dazu aufrief, sich dem Nazi-Befehl, dem „Feind“ nur „verbrannte Erde“ zu hinterlassen, zu widersetzen. In Penzberg galt es, die Flutung des Bergwerks und die Hinrichtung von Zwangsarbeitern zu verhindern. Das gelang zwar, aber Wehrmacht und eine Werwolf-Gruppe reagierten: Acht Menschen wurden erschossen, acht weitere, von Mitbürgern denunziert, öffentlich aufgehängt. Zwei Tage später marschierten die Amerikaner in Penzberg ein …
Kirsten Boie rekonstruierte die „Penzberger Mordnacht“ nach den Gerichtsakten und bettete sie in eine fiktive Handlung ein, worin die Jugendlichen Schorsch und Gustl um Maries Liebe werben. Marie und Schorsch werden zu Beobachtern der Mordtaten, „Werwolf“ Gustl wird zum Mittäter. Für ihre Novelle fügte Boie 44 filmische Sequenzen aneinander, überschrieben mit Ort, Datum, Tageszeit und Personen, was das Faktische untersetzt. Eine ebenfalls filmisch gestaltete Naturmetapher, zwei aufeinander folgende Vollmondnächte, verleiht dem Erzählten eine fast mythische Dimension. Die kurzen Kapitel und die z. T. verknappte Satzgestaltung vermitteln das sich Überschlagen der Ereignisse, adaptieren aber auch die Sprachlosigkeit der Jugendlichen. Einerseits gibt Boies Erzählinstanz (nur einmal als „Ich“: „Aber ich greife ja vor“), das Geschehen distanziert-beobachtend und leicht kommentierend wieder. Andererseits nähert sie sich behutsam dem Denken, Fühlen und Fragen ihrer Figuren, sodass über das Erleben der in die Vorgänge verwickelten Jugendlichen die Atmosphäre von Angst, Hoffnung und Verzweiflung nachempfindbar wird. Gleichzeitig werden viele Details – Verdunkelung, Feindsender, Standgericht – erwähnt, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund andeuten.
Ein politisch engagiertes Nachwort der Autorin ergänzt diese Seite der inhaltlich und formal beeindruckenden Erzählung. Dabei wird deutlich, dass, so furchtbar die Ereignisse im April 1945 waren, der noch größere politische Skandal darin liegt, dass die 1948 verurteilten Täter in der BRD nach Revisionsprozessen Straferleichterung erfuhren oder freigesprochen wurden. So geschehen in hunderten von Kriegsverbrecherprozessen der westlichen Besatzungsmächte, wo von deutschen Gerichten später Strafen reduziert oder aufgehoben wurden. Kirsten Boie wurde im April 2021 vom Bundespräsidenten eingeladen, mit Schülern aus Penzberg über ihr Buch zu diskutieren. Wie nach 1945 in Deutschland Schuld verdrängt wurde, gehörte dazu.
(Der Rote Elefant 39, 2021)