Der Feind heißt „Pferdemädchen“. Damit ist eine Mädchenclique gemeint, die sich aufgrund begüterter Eltern das teure Reit-Hobby und die zugehörigen Klamotten leisten kann, sich als Gruppe aufspielt und auf andere herabblickt, wie z. B. auf Neele, die sie „Scheißerchen“ nennen, weil die sich so gerne auf dem Klo einschließt. Dagegen fühlt sich die 11-Jährige machtlos, ist aber vor allem wütend und traurig darüber, dass sich ihre bislang beste Freundin Nour scheinbar der Clique angeschlossen hat. Überdies nerven die Isolation durch blöde Windpocken, der Klassenkamerad Mütze, von dem Neele nichts wissen will, und die Vorboten der Pubertät. Dann sind da auch noch die ständig seufzende Mutter und die geliebte, künstlerisch ambitionierte Tante Fanny mit ihren Depressionen. Um in diese Gemengelage eine gewisse Ordnung zu kriegen und Klarheit über sich und andere zu gewinnen, fertigt Neele Listen an, z. B. über Geheimnisse, die sie für sich behalten will, aber auch über Krankheiten und Sterbeursachen. Sie besucht die Tante in der Psychiatrie, konfrontiert die Mutter mit alten Liebesbriefen und sucht immer wieder Kontakt zu Nour.
Das mit dem schwedischen August-Preis 2020 ausgezeichnete Buch stellt ein selbstbewusstes, kreatives, aber unangepasstes Mädchen vor, das starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt ist. Letztere beherrschen sie am stärksten, wenn „die Wolfsstunde“ über sie kommt und sie nicht schlafen kann. Dann lässt sie sich auch sprachlich immer wieder zu Grenzverletzungen hinreißen, wobei ihr „schlimme Wörter“ helfen, Ängste und Aggressionen abzubauen. Im Grunde jedoch beobachtet Neele ihre Umwelt teilnahmsvoll und ist letztlich froh, dass sie ihre Freundin wiedergewinnt und sich Anzeichen der Zuneigung zwischen den Eltern mehren, so dass doch noch Hoffnung auf eine kleine Schwester bleibt.
Das psychologisch eindrucksvolle Sprachporträt der Ich-Erzählerin wirkte sich auf die Illustratorin offenbar überaus inspirierend aus. Deren Schwarz-Weiß-Zeichnungen, mal mit Tusche, mal mit Kohle ausgeführt, wirken z. T. ungemein wild und frech. Darin vermittelt sich auch, wie Neele sich fühlt, wenn sie gut drauf ist, was die eher depressiven Textpassagen manchmal hervorragend konterkariert.
Mit Kindern könnte man nach dem Muster Neeles Listen anfertigen: Was ich gut kann / Was meine Freundin gut kann / Dinge, für die ich Geduld habe / Dinge, von denen man sterben kann / Meine hässlichsten Wörter.
(Der Rote Elefant 40, 2022)