Im Bilderbuch „Die Reise“ befreite ein Mädchen einen violetten Vogel und gewann einen Freund. Nun fahren beide, begleitet vom violetten Vogel, in „Die Suche“ mit dem Fahrrad durch die grau-verregnete Heimatstadt, vorbei an Wolkenkratzern. Wieder sind die violette und rote Kreide dabei. Unter einer Brücke suchen die Kinder Schutz vor einem Regenschauer. Plötzlich öffnet sich im Pfeiler ein Tor. Ein geheimnisvoller König reicht den Kindern eine Karte. Von grauen Schergen zurückgerissen, wirft er ihnen eine orangefarbene Kreide zu. Zum Öffnen des wieder geschlossenen Tores zeichnen sich die Kinder kurzerhand einen Schlüssel. Die wundersame Stadt, dem Mädchen aus „Die Reise“ vertraut, ist gebrandschatzt. Der König und die Seinen sind gefangen. Nun gilt es, an den auf der Karte markierten Orten etwas zu suchen, was die (Er)Lösung bringen kann. Doch die Eroberer haben die Kinder entdeckt …
Auch „Die Suche“ bedarf aufgrund handlungsintensiver Illustrationen keines Textes. Die Doppelseiten zeigen panoramaähnliche Ansichten, wobei die Perspektiven wie Kameraeinstellungen wechseln und so die Betrachter unweigerlich in die wilde Verfolgungsjagd hineinziehen. Wie in „Die Reise“ spielt der violette Vogel eine Schlüsselrolle. Die mittels Kreiden gemeinsam gezeichneten Fluchtlösungen der Kinder treiben die Handlung blitzschnell voran und heben sich vollfarbig wie fremdartige Akzente von der detailreich aquarellierten Umgebung ab. Die Karte des Königs führt zu Stätten vergangener Hochkulturen: einem antiken Tempel auf dem Meeresgrund, einem Tempel der Maya, einer Buddha-Statue im Hochgebirge. Gefunden werden dort weitere Farbkreiden, woraus letztlich ein Regenbogen entsteht, der Himmel und Erde, geistige Höhe und irdische Herrschaft verbindet. Als Brücke zwischen Realität und Phantasie begrüßt er am Ende die Heimkehrenden am tristen Aufbruchsort.
Beide Bilderbücher erzählen auf entwicklungspsychologischer Ebene von der Kraft kindlicher Kreativität, wobei in „Die Suche“ gemeinsames Tun freundschaftsvertiefend wirkt. Dass die Kinder mit „Farben“ gegen eine seelenlos-graue-gewalttätige Welt antreten bzw. an ästhetisch und spirituell wichtigen Kultstätten der Vergangenheit nach „Farben“ suchen, verweist gleichnishaft darauf, dass es diese „Weltbilder“ als „Menschheitsgedächtnis“ zu schützen gilt und spielt auf aktuelle Vernichtungsorgien des sogenannten IS an. Auch wenn oder gerade weil die manchmal überbordende Bildphantasie des Künstlers viele Rätsel aufgibt, regt Aaron Becker Kinder wie Erwachsene zum gemeinsamen aber auch individuellen Weiterspinnen und Gestalten eigener Welten an – mit und ohne Kreide. Dabei könnten seine verwendeten Bildsymbole Tür/Tor, Schlüssel oder Brücke als Impulse dienen.
(Der Rote Elefant 34, 2016)