„Hanna taucht nicht in meinem Leben auf. Sie taucht von Anfang an unter“, urteilt Josefin über die neue, regennasse, schweigsame Banknachbarin. Warum deren Panik wegen der Knallgasexplosion in Chemie? Warum die Flucht vor den Männern an der Sternwarte? Warum die Weigerung, aufs Klassenfoto zu kommen? Passt dazu, dass Hanna im Supermarkt 10 Nagellackflaschen klaut und sich erwischen lässt? Genießt sie wirklich die scheußlichen Speisen, die Josefins Mutter in den „ausländischen Wochen“ fabriziert? Und warum verteidigt sie ihren Eltern gegenüber den Besuch bei Josefins Oma, wenn sie „schon selber keine haben“ dürfe? Josefin wüsste gern, was Hanna bedrückt, aber: „einen Menschen um sein Geheimnis bitten. Wie um einen Bleistift, ein Blatt Papier. Niemals“. Als Hanna bei einem „ausländischen Essen“ fehlt, sieht Josefin vor deren leeren Haus Polizei. Sie erfährt: Nach Hannas Eltern würde seit langem gefahndet, aber nun sei die Familie erneut untergetaucht. Wochen später läutet das Telefon. Josefin hört Schweigen und schweigt beredt zurück.
Metaphorisch (etwas zu) deutlich „taucht“ Kreller ihre psychologisch komplexe Geschichte um eine wortkarge Freundschaft in Regen: sintflutartig an Anfang und Ende, je nach Nähe oder Distanz in Dauer- oder Nieselregen. Als Beziehungsgleichnis fungiert überdies Hannas zerfleddertes Buch „Gotische Kirchen bei Lichte besehen“, das diese als „einziges Zuhause“ stets bei sich trägt, aber vor dem „Abtauchen“ heimlich bei Josefin zurücklässt. Wie schon in „Elefanten sieht man nicht“, „Schneeriese“ und „Elektrische Fische“ lotet die Autorin Selbstfindung und Widerstandsmöglichkeiten in einem Alter aus, das durch Familienabhängigkeit bestimmt ist. Dass Hannas Eltern kriminell sind, erhellt sich spät. Bis dahin spannt die Autorin aus Mutmaßungen anderer Figuren und Josefins Hin- und Herdenken („das Einzige, was stimmt. Dass man wirklich nie weiß. Nie“) einen kriminahen Spannungsbogen. So „weiß“ z. B. Josefins Mutter von einem „Zeugenschutzprogramm“. Mittels der Präsens-Perspektive der Ich-Erzählerin sind Lesende stets an Josefins Seite. Ihre Zweifel, verdichtet in Satzfetzen und abrupten Urteilen, provozieren, sich zu Schein und Sein überhaupt ins Verhältnis zu setzen. Bewirkt Josefins Respekt vor Hannas Geheimnis wirklich, dass diese den Mut findet, Auswege aus ihrem Dilemma zu suchen? Relativiert sich Josefins Sicht auf ihre „schräge“ Familie bzw. ihr Selbstbild als einer, „die nur aus Versehen mitfotografiert wird“ durch die Hanna-Erfahrung?
Um Neugier auf das Buch zu wecken, böten sich als Einstieg Regengeräusche und Josefin-Sätze über Hanna aus dem 1. (Regen)Kapitel an. Ergänzt durch Figurenaussagen (Josefins Mutter, Lehrerin, Hannas Eltern) wäre darüber zu sprechen, ob und wie eine Freundschaft mit Hanna denkbar wäre.