Eine Woche Ferienlager mit 40 Schulkamerad*innen in einem Brandenburger Wald. Nichts freut den kindlichen Ich-Erzähler weniger. Er gibt vor, Natur abzulehnen, und verweigert sich den angesetzten Aktivitäten. Tatsächlich liest er lieber, meidet Gruppen, redet „seltsam und schwierig“. Im Grunde aber graut ihm davor, anstelle von Jörg „das Opfer“ zu werden. Er verfolgt genau, wie der wanderfreudige, zeichenbegabte Junge mit großen Ohren von Marko nebst Anhang „andersiger“ gemacht wird, ringt mit zwischen Wut und Mut changierenden Schuldgefühlen und hat Albträume. Bei einer Klettertour steht er Jörg dann doch vorsichtig bei. Ein erstes Anzeichen dafür, dass er über sich hinauswachsen und sie beide verbündete „Außenseiterfreunde“ werden könnten … (?) Seinen Namen, übrigens, offenbart Kemi erst im allerletzten Satz.
Stanišić hat weder eine Tier- noch eine der üblichen Mobbing-Geschichten verfasst. Mit dem Kniff, Kemi ohne Namensnennung erzählen zu lassen, lenkt er den Blick weg von Geschlecht und Alter auf dessen sozialen Status (Übrigens wachsen beide Kinder mit alleinerziehenden, liebevollen Elternteilen auf!). Vor allem die Fähigkeiten, mit denen der Autor seinen Protagonisten ausstattet, machen den Roman zu einem höchst realistisch-qualitätsvollen. Kemi vermag nicht nur sinnlich-nachvollziehbar Natur- und Lagererlebnisse zu schildern sowie lakonisch-ironisch Mitinsassen und Betreuerpersonal zu porträtieren. Zugleich reflektiert er – quasi als ein Alter ego des Autors, der in seinem Band „Fallensteller“ für Erwachsene bereits eine „Ferienlager im Wald“-Erzählung publiziert hat – Erleben und Erzählen. Etwa wenn er Methoden mehr oder weniger fähiger Erzieher*innen durchschaut: „Die Erwachsenen wollen einfach, dass wir das machen, was sie wollen, dass wir machen.“ Oder indem er sich Jörg als ‚Held‘ vorstellt: „Geschichten, die ich mir… ausdenke, gehen immer besser aus als die echten Geschichten im blöden Alltag oder in der Schule.“ Lediglich, was Kemis politisch-gesellschaftliches Verständnis übersteigen würde, legt Stanišić – kritisch „Spuren hinterlassend“ – einer Klartext redenden Försterin und Oma in den Mund.
Und was hat es mit dem titelgebenden Wolf auf sich? Kehn, die das Buch mit teils scherenschnittartigen, teils gezeichneten, ganz- und doppelseitigen sowie vielen kleine(re)n Bildern und Vignetten durchweg in Schwarz-Gelb pfiffig und atmosphärisch-eindrucksvoll illustriert hat, zeigt das körperlich nicht auftauchende Tier in verschiedenen Posen: mal bedrohlich, mal beschützend, übermächtig heulend und zuletzt verschwindend.
Dem Angst symbolisierenden Fantasiewesen könnte, selber reflektierend, anhand von Sprichwörtern nachgegangen werden: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf/ Ein bös’ Gewissen hat Wolfszähne.