Ein Mädchen sitzt einsam mit seinem roten Roller in einer grauen Stadt. Alle (roten) Spielideen werden von ihrer sepiafarbenen Umwelt ignoriert. Schaut man sich in ihrem Zimmer um, ahnt man, dass sie von Abenteuern und der weiten Welt träumt: eine Weltkarte, die mit Segelschiffchen bedruckte Bettwäsche, der Ballonlampenschirm deuten darauf hin. Glücklicherweise liegt ein Stück rote Kreide auf dem Fußboden. Das Mädchen zeichnet damit eine Tür an die Wand und öffnet diese. Dahinter wartet eine farbige Welt: ein lichter grüner Wald, durch den sich ein Bach schlängelt und in dessen Zweigen Lichterketten und asiatische Lampions hängen. Wieder hilft dem Mädchen die rote Kreide, sich in dieser Welt fortzubewegen. Am Bootssteg zeichnet sie sich ein Boot, das sie in eine große Stadt mit phantastischen Wasserstraßen bringt. Als eine dieser Wasserstraßen endet und zum Wasserfall wird, zeichnet sich das Mädchen einen roten Ballon und schwebt durch die vielfältig befahrenen Lüfte. Als sie einen gefangenen lilafarbenen Vogel entdeckt, beginnt ein Abenteuer, das an einer lilafarbenen Tür endet. Diese führt zurück in ihre sepiafarbene Heimat. Doch wer irgendwohin aufbricht, kommt bereichert zurück!
Aaron Becker schafft es, in seinem detailreichen Bilderbuch mittels eines bekannten Motivs – der Tür – eine große Geschichte zu erzählen. Das mutige Mädchen wird am Ende einen neuen Freund gefunden haben und um Erfahrungen reicher sein. So abwechslungsreich die Erlebnisse des Mädchens sind, so vielfältig erzählt Becker in ständigen Wechseln: Perspektiven wechseln, farbkräftige Aquarelle und grau-in-grau-getönte Seiten, Begrenztheit des Zimmer und die Weiten phantastischer Abenteuerwelten. Dazu kommen Seiten mit jeweils drei kleinen Zeichnungen auf weißem Untergrund, die Handlungsverläufe verdeutlichen. Für das Ende der Geschichte hat sich der Künstler etwas Besonderes einfallen lassen, was sich jedoch nur durch genaues Betrachten rückblickend erschließt.
Denn die doppelseitige Illustration der Impressum-Seite offenbart, dass es bereits am Anfang der Geschichte jemanden gibt, der vor genau der Tür wartet, die das Mädchen am Ende seiner Reise öffnet. Wunderbar sind die Geschichten beider Kinder miteinander verknüpft. Fortan zeichnen sich die beiden Gleichgesinnten gemeinsam (durch) ihre Welt …
Das textlose Bilderbuch lädt zum Erzählen ein, vor allem aber zum Erfinden der Komplementärgeschichte des Jungen: Warum wartet er vor der Tür und wie geriet sein Vogel in Gefangenschaft?
(Der Rote Elefant 33, 2015)