„Rückt zusammen, Kinder, ich will euch eine Geschichte erzählen“: Ein Mädchen in Rot macht sich auf den Weg zur kranken Großmutter … Eine trauliche Erzählsituation? Mitnichten. Das Bild zeigt einen dunklen Raum, überfüllt mit Spielzeug. Um einen Tisch sitzen Kinder und lauschen einer Großmutter-Maschine.
Die Märchenanspielungen (Wolf, Wunder, Wald) wirken angesichts der Illustrationen nahezu zynisch: Ein rotgekleidetes Mädchen durchquert eine moderne Großstadt. Im Vergleich mit diesem Dschungel erscheint der Grimmsche Rotkäppchen-Wald als geradezu heimeliger Ort. Die kleine Sophia läuft vorbei an beschmierten Häusern, bröckelnden Fassaden, vollgepflastert mit grellbunten Werbetafeln, passiert Obdachlose und Bettler, überall liegt Müll und Unrat. In diesem „Wald“, weiß Sophia, wird man beim Überqueren einer Straße „von allen gesehen, aber von keinem beachtet.“ Das „Herz des Waldes“: ein riesiger Konsum- Tempel. Sophia zieht es zu ihrem Lieblingsschaufenster, voll von blutrünstigen,
zähnefletschenden Monstern, massenweise Spielzeugwaffen, sich spreizenden Luxus- und S/M-Barbies. Der Blick des Kindes aber ruht auf etwas, das innerhalb des militant-sexistischen Durcheinanders fast untergeht: auf einer Spieluhr mit Ballerina, einem schmächtigen Pinocchio, einer Mädchenfigur mit roter Kapuze, Blume und Körbchen …
Frisch und Innocenti legen ein ästhetisch anspruchsvolles, provokant-verstörende Buch vor, trostlos-düsterer Spiegel einer inhumanen Gesellschaft. Die Illustrationen sind voller Anspielungen auf Politik-, Wirtschafts- und Finanz-Welt: ein Banner wirbt für die „Bank of Caiman“, Wahlplakate zeigen einen Zähne bleckenden Politiker, dem jüngst wegen Steuerhinterziehung verurteilten Berlusconi zum Verwechseln ähnlich. Eine triptychonartig gestaltete Doppelseite verweist auf drei „Wunder“ des Waldes: Musik (Straßenmusiker), Magie (Straßenkünstler), Mystery (Mord-Tatort). Bilddetails erinnern an Großstadtszenen von George Grosz oder Otto Dix, welche Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise wie Arbeitslosigkeit, Armut, Moralverlust anprangerten. Die Parallelen sind offensichtlich. Grenzenloser Konsum und Kommerz als einziger Lebens„sinn“ gehen mit Entfremdung, Gleichgültigkeit, Egoismus und Verrohung einher. Die Geschichte endet tragisch. Der „Wolf“, in schwarzes Leder gekleidet, rast auf einem Motorrad heran, mimt den Retter, missbraucht jedoch ‒ märchengemäß ‒ das Vertrauen des Mädchens. Das alternative „Happy End“ wirkt in seiner Übertriebenheit wie eine Parodie.
Frisch und Innocenti schonen weder Hauptfigur noch Leser und Betrachter. Aber sie bieten Denkanstöße aufgrund ihrer Klassik-Zitate. Sophia, selbst Zitat eines zeitlosen Märchens, be„sucht“ Verwandte. Mit welchen Gefahren waren diese in ihren Geschichten konfrontiert? Wo war darin Hoffnung? Ob Kinder ihre Realität in dieser ästhetisch verdichteten Gestalt erkennen, bleibt zu erkunden. (Selbst)kritische Erwachsene, nicht Erzählmaschinen, sollten mit ihnen gemeinsam nachdenken.
(Der Rote Elefant 31, 2013)