Ein belgisches Dorf zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Siebzehn Schritte liegen zwischen dem heimischen Gasthaus und einer Holzbank. Dort kann sich das Mädchen in der Frühlingssonne wärmen, Geräuschen von den Feldern und dem Stimmengewirr der Soldaten lauschen, die sich beim Bier vom Fronteinsatz erholen. Siebzehn Schritte. Das Mädchen ist blind. Aber es kann hervorragend Klänge unterscheiden, Stimmungen der Menschen ahnen, Gerüche zuordnen. Das Mädchen spürt, dass jemand auf „seiner“ Bank sitzt. Ein Soldat. Einer, der anders ist. Hinter dessen Geruch nach Schweiß, Schlamm und Blut, der allen Soldaten anhaftet, nimmt das Mädchen einen wahr, der an geröstete Nüsse erinnert. „Woher kommst du?“ Zögernd-leise antwortet er: „Afrika.“ Tags darauf ist er wieder da und von da an immer wieder. Nach sechs „Front“-Tagen ein erneutes Wiedersehen. „Erhol“-Tage voller Gespräche und Geschichten. Über Afrika, die Sonne, die Früchte. Über den Sohn, die Frau und die Holzfeuer. Über des Mädchens Sehnsucht nach dem Vater, der auch im Krieg ist. Über beider Angst, Einsamkeit, Ohnmacht. Über die sinnlose Grausamkeit des Krieges, unbändiges Hoffen auf Frieden. Die bösartigen Tuscheleien der Nachbarinnen, Soldaten und Bauern überhörend, freut sich das Mädchen auf jede Begegnung. Mit einem selbst gebackenen Brot will es den Freund überraschen. Doch der bleibt aus. Einen Tag, noch einen. Am dritten Tag wickelt das Mädchen sein immer noch duftendes Brot in ein Tuch und geht in Richtung Front, den Freund zu suchen …
Die flämische Autorin lässt einen personalen Erzähler zwischen den Gedankenwelten des Mädchens und des Soldaten wechseln. Beobachtungen und Äußerungen einer Figur werden von der anderen aufgenommen, durchdacht, kommentiert. Das erzählerische Verfahren bindet den Lesenden ans Geschehen. Kurze, prägnante Sätze im Präsens verleihen dem sinnlichen Text eine hohe Dichte. Inspiriert von Dokumentarfotos schafft Ann de Bode Illustrationen (Ölbilder auf Leinwand) in zwei Farbtönen: Weiß und Olivgrün, die auch im Layout für die Unterscheidung der Perspektiven genutzt werden. Meist doppelseitige Illustrationen ragen über den Seitenrand hinaus und appellieren an die Vorstellungskraft der Betrachter. Das kleinformatige, schmale Buch ist eine kunstvolle Novelle, die über das historische Beispiel hinaus Heranwachsende zur Wahrnehmung und Diskussion von Kriegsfolgen für Psyche und Physis von Menschen anregen kann. Ein Kritikpunkt: Der Begriff Tirailleurs erhellt sich nicht, was inhaltlich und historisch notwendig wäre, meint er doch Männer aus Kolonien in Afrika, die für den Ersten Weltkrieg rekrutiert wurden. Spannend wäre das Lesen in zwei Gruppen. Jede erhielte eine Perspektive. Die Zusammenschau ergäbe das Gesamtgeschehen.
(Der Rote Elefant 34, 2016)