Alois Prinz recherchiert für seine Biographien akribisch, besucht relevante Orte und Menschen, zieht bisher unbeachtete Quellen heran. Vor allem aber stellt er im Text Fragen, an sich, an die Leser. Damit versteckt er sich nicht hinter seinem Gegenstand, sondern nimmt Stellung und fordert seine Leser zum (Mit-)Denken auf. Neun Biographien hat Prinz bisher veröffentlicht und verfährt strukturell relativ gleich: Einem Prolog, der Arbeits- und Herangehensweise klärt, schließt sich die chronologisch aufgebaute Lebensgeschichte an, die ein Epilog abrundet. In der Ulrike-Meinhof-Biographie schreibt er: „Man findet immer leichte Zusammenhänge, wenn man ein Leben von seinem Ende her betrachtet. Alles scheint auf das Spätere hinzudeuten. Aber nichts ist zwangsläufig. Das Spätere kann das Frühere höchstens erhellen, daraus ableiten lässt es sich nicht. Das konkrete Leben spielt sich nun einmal in der Gegenwart ab und die lässt immer viele
Türen offen“.
Und so spürt er auch bei Goebbels diesen offenen Türen nach. Hierfür wertet er den größtenteils unveröffentlichten Nachlass Goebbels (darunter Briefe und literarische Texte) und seine neueditierten Tagebücher aus. Und er integriert das Leben Goebbels in die Zeitgeschichte, z. B. den Aufstieg Hitlers oder den Kriegsverlauf. Um Antworten auf die Frage zu finden, wie „aus jenen normalen Eigenschaften des Joseph Goebbels ein normaler Wahnsinn werden kann, der ein nicht fassbares Ausmaß an Zerstörung und Leid zur Folge hatte“, bezieht er Aussagen von Personen mit ein, die sich mit dem Phänomen des Bösen und des Unbewussten beschäftigt haben: Hannah Arendt, Peter Sloterdijk, Thomas Mann, Sigmund Freud. Prinz‘ Resümee: Goebbels sei ein sich selbst „betrügender Betrüger“ gewesen, der in einer Art Selbsttäuschung lebte. Diese erlaubte ihm alles zur Durchsetzung des aus seiner Sicht Durchzusetzenden: „Terror, Gewalt und die Absage an jede Moral“. Alois Prinz stellt die Frage, ob und wie man sich mit jemandem beschäftigen soll, der Verbrechen solchen Ausmaßes schuldig ist. Bedenklich erscheint ihm die Annäherung,
bedenklich aber auch das Nicht-Wissen. „Die Neugier, einem Charakter wie Joseph Goebbels auf die Schliche zu kommen, war immer stärker als der Widerwille gegen seine Taten und Gedanken. Abscheu gegenüber einer solchen Person ist verständlich, wichtiger finde ich allerdings, sie verstehen zu wollen in dem Sinn, dass ich ihre Motive und ihre Entwicklung durchschauen kann.“ Für Prinz gilt es, das „Amoralische, Zerstörerische“ auch in der Gegenwart zu erkennen, um dessen Kraft zu widerstehen. Prinz‘ Biografie gibt dem Täter ein Gesicht und eine Geschichte und nimmt damit Namen und Taten das Abstrakte.
Ohne Zweifel ist die Lektüre anspruchsvoll und setzt historisch interessierte Jugendliche voraus, aber sie gibt Antworten auf die Frage: Wie konnte das geschehen?
(Der Rote Elefant 30, 2012)