Die fünfjährige Amelie thront in Großvaters Schuhhaus Pallas in Ulm und freut sich an Stiefelchen, Lackschuhen und Sandalen … Vierzig Jahre später weiß sie, dass der idyllische Kindheitsort eine tabuisierte Geschichte hat: Als Amelies Großvater, dem Juden Franz Fried, sein Schuhgeschäft entzogen werden soll, wehrt er sich vergebens, überträgt schließlich den Laden auf seine „arische“ Frau, deklariert ihn öffentlich als „arisch“. Ohne Erfolg. Auch die Überschreibung auf Sohn Kurt, Amelies Vater, scheitert. Ein intellektueller Halbjude aus Ulmer Kunstkreisen erhält keine Chance. Kurt schreibt einen überaus devoten Brief an die Gauleitung, verweist auf prominente Nazi-Freunde, spricht stolz von „arischer“ Abstammung der Mutter. Über diesen Brief wird im Hause Fried Familie später nie gesprochen werden, nie über eine mögliche Scham darüber … Amelies Fragen weist der Vater Zeit seines Lebens barsch zurück. „Familiengeheimnisse haben eine starke und unberechenbare Wirkung. Die seelischen Verletzungen werden weitergegeben, von Generation zu Generation, auch und gerade durch das Schweigen. Ich glaube fest daran, dass nur, indem wir das Schweigen brechen, indem wir fragen und zuhören, diese Verletzungen irgendwann heilen können.“
Amelie Frieds Anliegen ist politisch und zugleich psychologisch motiviert. Ehrlich beschreibt sie ihre Entdeckungen in Archiven, ihre persönlichen Gespräche mit noch lebenden Verwandten, befragt sich, wie sie wohl gewesen wäre in jener Zeit. Behutsam wertet sie ihre Erkenntnisse. Sie versöhnt sich mit dem ewig unnahbaren Vater, ohne abzurechnen. Nähe und Distanz zu Personen und Ereignissen schafft sie durch geschickt wechselnde Zeitformen: mal setzt sie Vergangenes ins Präsens, mal Heutiges ins Präteritum. Zwar folgt sie einer Zeitleiste, aber verlässt diese, um im Diskurs mit dem Leser und sich selbst kommentierende Gedanken zu formulieren. So entsteht ein Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann.
Dieses persönliche Buch ist ein Geschichtsbuch von großer Qualität. Ohne Pathos und Gefühlsduselei macht es Privates öffentlich, zeigt das Politische im Privaten. Und es erzählt von Zivilcourage. Zivilcourage hat auch die Autorin bewiesen, als sie in München, genau dort, wo Verwandte der Familie Fried gelebt haben, eine Folie a la Stolperstein aufs Straßenpflaster klebt und ein Denkmal setzt, obwohl oder besser weil ein Stadtratsbeschluss Stolpersteine verbietet.
(Der Rote Elefant 26, 2008)