Seit Felix Winter mit einer Kopfverletzung Monate im Koma lag, ist nichts mehr normal. Er löst jetzt nicht nur mühelos die schwersten Matheaufgaben, auch die Ängste, Krankheiten und Auren seiner Mitmenschen kann er plötzlich sehen. Dass er sich schon bald „Anders“ nennt, verwundert daher nicht.
Andreas Steinhöfel erzählt drei Monate aus dem Leben des Jungen, von dessen Kampf gegen die greller und lauter werdenden Farben und Geräusche in seinem Kopf und von dem stärker werdenden Gefühl, dass in seiner Welt bereits vor dem Unfall etwas nicht stimmte. Aus wechselnden Perspektiven – Anders, sein Vater, die Lehrerin, der Krankenpfleger u.a. – zeichnet Steinhöfel zugleich die Bigotterie einer typischen Kleinstadt. Dass er dabei nach Bergwald zurückgeht, jenen Ort, an dem er bereits in „Paul IV und die Schröders“ Intoleranz und kleinbürgerliche Vorurteile entlarvte, ist nur konsequent. Erneut geht es um Schuld, die Einzelne auf sich geladen haben, und welche die Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung deckt. Tolerierte, kollektive Schuld aus Angst vor dem Fremden wird zudem in der in „Anders“ erzählten Sage vom Erler Loch thematisiert. Seit dort – wie man erzählt – das Kind einer Nixe von Einheimischen getötet wurde, sei diese Stelle der Lahn verflucht, wird jeder, der hier ins Wasser geht, für immer in die Tiefe gezogen. Als Anders genau dort in den Fluss steigt, um so das wachsende Unbehagen in sich zum Schweigen zu bringen, wird das lebensgefährliche Unternehmen für ihn zu Reinigung, Wiedererweckung und Taufe. Felix’ Erinnerung ist zurück und zwingt ihn zum Handeln.
Einfühlsam erzählt Steinhöfel vom Erwachsenwerden, Verantwortung und Courage. Wie Paul IV lernt auch Anders, seine Umgebung neu zu sehen. Die Unangepasstheit, die daraus erwächst, hat jedoch ihren Preis. Unwiederbringlich wird die vermeintliche Idylle der Winters zerstört. Steinhöfel widmet seine Aufmerksamkeit von jeher Figuren, die jenseits der bürgerlichen Norm stehen und oft auch einsam sind. Wie z. B. neben Anders auch dessen einstiger Nachhilfelehrer, der dieses Gefühl in seiner Erzählung eines Mühsam-Gedichtes ausdrückt. Einen Zustand von Unbehaustheit vermitteln – neben weiteren literarischen Verweisen – auch eindrücklich Peter Schössows Vignetten am Beginn eines jeden Kapitels. Mit „Anders“ stellt Steinhöfel Fragen, die weit über das Werk hinauswirken: Wie viel Ehrlichkeit, Loyalität und Mut braucht die Gemeinschaft bzw. verträgt der Einzelne? Was liegt hinter der Fassade der Bürgerlichkeit? Und wäre man bereit, Freunde bzw. Unschuldige für den Frieden des Gemeinwesens zu opfern?
(Der Rote Elefant 33, 2015)