Karim führt ein normales Leben in Homs, bis sein Heimatland Syrien im Krieg versinkt. Mit fünfzehn Jahren flieht er deshalb „tausend Meilen über das Meer“, um seiner Familie eine Zukunft in Deutschland zu sichern. Während der Flucht kommt er ins Gefängnis, gerät an Schlepperbanden, die Flüchtende wie Vieh behandeln und ertrinkt beinahe im Mittelmeer. Endlich in Konstanz am Bodensee angekommen, geht Karims sehnlichster Wunsch in Erfüllung: Er darf nach drei Jahren wieder zur Schule gehen. Doch kaum hat er sich eingelebt, wirft man ihm Cyber-Mobbing vor. Er soll von einer Mitschülerin Nacktfotos gepostet haben. Erhoben wird dieser Vorwurf von einem Mädchen, das selbst ein Mobbing-Opfer ist. Kaum jemand glaubt Karim, dem Flüchtling, dass er unschuldig ist und so droht ihm ein Schulverweis.
Annabel Wahba erzählt all das konsequent aus Karims Perspektive. Um dessen emotionale Zerrissenheit für junge Leser nachempfindbar zu machen, arbeitet sie mit parallel montierten Erzählebenen: hier das idyllische Konstanz, wo Karim gegen die falsche Verdächtigung ankämpfen muss – dort Karims Erinnerungen an Bürgerkrieg und Flucht, die er noch gar nicht verarbeiten konnte. Zu letzterem gehört auch die innere Zwiesprache mit der heftig vermissten Mutter. Die Darstellung der Flucht entspricht im Wesentlichen den tatsächlichen Ereignissen. Dabei ist dem Text die Empathie der Autorin für ihren Protagonisten, den sie in zahlreichen Gesprächen kennenlernte, anzumerken. Vielleicht ist das der Grund, weshalb besonders zu Beginn manche Passagen etwas zu stark auserzählt sind, so dass mitunter wenig Raum für eigenes Mitdenken bleibt. Und doch werden wir in das Schicksal Karims auf eine intensive Weise hineingezogen, die den Blick auf die vielgepriesene Willkommenskultur unseres Landes verändert. Letztlich löst sich auf diese Weise die im Nachwort formulierte Absicht der Autorin ein, ihr Buch möge die Fluchtgründe von Menschen wie Karim deutlich machen und dabei helfen, sich in ihre Lage zu versetzen. Denn: Karim ist nicht freiwillig gekommen und fühlt sich ziemlich allein. „Vielleicht muss ich mich auch erst daran gewöhnen, ein Flüchtling zu sein.“ Ein Satz wie dieser hat das Zeug dazu, tatsächlich eine Brücke zu bauen. Er kann besonders in Schulkassen als Gesprächsgrundlage dienen, in denen es Jugendliche mit und ohne Fluchterfahrung gibt. Darüber hinaus bietet die Thematik des Cyber-Mobbings einen Anknüpfungspunkt, der ganz unabhängig von der Frage der Herkunft heute (leider) bei sehr vielen Jugendlichen einen Nerv treffen dürfte.
(Der Rote Elefant 35, 2017)