Die „Odyssee“ (8. Jh. v. Chr.) gehört zu den am meisten nacherzählten Epen abendländischer Literatur. Die renommierte schwedische Autorin bindet ihren Text – wie 1997 Peter Hacks mit „Telemach und sein Lehrer Mentor“ – nicht an Odysseus, sondern Sohn Telemach. Ging es Hacks vorrangig um das Lehrer-Schüler-Verhältnis, so zielt Thors moderner Zugriff auf zeitlos-politische Verwerfungen. Penelopes Freier gründen z. B. zur Legitimation von Macht- und Kriegsgelüsten samt Frauenvergewaltigungen eine nationalistische Fortschrittspartei. Kritisiert werden überdies tradierte Frauenrollen, Schicksalsbegriff und Götterglauben. Mit alldem ist Telemach konfrontiert, der im Laufe der erzählten 10 Jahre vom Kind zum Mann reift. Anfangs will Telemach nur den Vater zurück! Doch Bewunderung und Wissbegier rund um den Helden von Troja, die Suche nach ihm und dessen endliche Rückkehr münden nicht in ersehnte Nähe, sondern einen Vater-Sohn-Konflikt. Telemach lehnt Odysseus‘ Kriegslogik ab, worin z. B. Kinder von Gegnern getötet werden müssen aus Furcht vor späterer Rache. Im Kampf gegen die Freier wird Telemach an Odysseus‘ Seite zum Mörder, für Telemach der wichtigste Grund, Ithaka zu verlassen.
Thor erzählt den Entwicklungsroman, der gleichzeitig ein Anti-Kriegsbuch ist, weitgehend überschauend. „Wer im Krieg gewesen ist, kommt nie wirklich zurück“, weiß Telemachs Mutter. Trotzdem spielt Penelope die Rolle der wartenden Gattin. Später urteilt der Sohn: „Seine Eltern waren zwei Fremde. Einsam“. Thors Erzählkunst zeigt sich in den Abenteuerepisoden und Schilderungen von Alltagsverrichtungen bzw. sozialen Hierarchien ebenso wie in Natur- und Landschaftsbeschreibungen, worin Gerüche, Stimmen und Früchte sinnlich erfahrbar werden. In die Gegenwartsebene schiebt sie Erzählungen über Odysseus als Mensch und Irrfahrer: Penelope gibt Träume preis, die Amme Erinnerungen, Helena berichtet über den Trojanischen Krieg. So entsteht ein Odysseus-Bild aus weiblicher Perspektive, das von Odysseus` Selbstdarstellungen im Urtext stark abweicht. Die sich den Frauenerzählungen anschließenden Dialoge rücken Telemach nah an heutige Lesende heran, spiegeln sie doch den Prozess vom naiv Fragenden zum Nachfragenden, vom Urteilenden zum Handelnden. Damit umkreist Thor auch „Erzählen“ und dessen Sinn überhaupt. Was, wann, wo und wie erzählt wird, sagt stets etwas über die Erzählenden selbst.
Ein Mythenprojekt könnte diesem Phänomen näher rücken, indem am Beispiel einer Odyssee-Episode alte und neuere Texte (Voß, Schwab, Sutcliff, Hacks, Fühmann, Thor …) inklusive Graphic Novels verglichen werden.
(Der Rote Elefant 40, 2022)