Ein Mädchen findet in einer Großstadtstraße auf dem Schulweg im Schnee ein rotes Buch. Im Unterricht blickt es heimlich hinein. Ein Bild zeigt einen Jungen, der an einem Inselstrand ein rotes Buch findet. Der Buch-Junge wiederum sieht in diesem Buch das Mädchen, das in ihrem Buch ihn betrachtet. Verwirrend! Später fliegt das Mädchen mittels vieler Luftballons davon. Der Junge verfolgt die Flugreise, bis das Mädchen aus seinem Buch entschwindet. Als es real unweit des Jungen landet, ist die Freude groß! Zwar verliert das Mädchen das rote Buch bei Flugbeginn, aber auch diesmal wird es gefunden …
Die in Chicago geborene Künstlerin erzählt ihre Buch-im Buch-Geschichte ausschließlich über Bilder. Dabei verführt sie über raffinierte Blickführungen und Perspektivwechsel schon Vorschulkinder zu assoziativem Denken, regt die Fantasie an und bereitet so literarisches Lesen vor. Innerhalb der Handlung und Orte blicken Betrachter*innen und Figuren z. T. gemeinsam in das rote Buch, z. T. wissen erstere mehr als die Figuren. Trotz inhaltlichem Verwirr-Spiel wirken Lehmans schlichte Farbillustrationen (Wasserfarben und Tinte auf Aquarellpapier) ausgesprochen ruhig. Schwarz gerahmt stehen sie auf Weiß, wobei Farben, Formen und schwarze Umrisse Klarheit ausstrahlen: Grau, Braun, Grün und Geraden bzw. Schrägen charakterisieren die Großstadt, Gelb, Grün, Blau und schweifende Linien die Insel. Alle Farben kehren in den Ballons als Symbol (buch)beflügelter Fantasien wieder. Über Formatwechsel bzw. Zoom-Effekte wertet Lehman Ereignisse. Eröffnet das Buch mit einer Großstadt-Doppelseite, die den Blick nicht fesselt, konzentriert danach sofort ein kleineres Bildformat auf das Ereignis „Buch-Fund“. Später lenkt Lehman den Blick über die Schulter des Mädchens ins Buch, worin Betrachtende und Figur über Einzelbilder an den Lebensort des Jungen gleichsam herangezoomt werden. Allein jedoch verfolgen Betrachtende aus der Vogelperspektive den Fall des winzigen Buches, das dann übergroß auf dem Straßenpflaster eine Seite füllt. Dessen Größe fordert am Ende geradezu auf, erneut gefunden zu werden …
Als Einstieg böten sich alle ungerahmten Bilder (Großstadtkulisse, Mädchen mit Buch, Ballon-Reise-Beginn, geöffnetes Buch auf Straßenpflaster mit dem Bild der Ankunft des Mädchens auf der Insel) als Assoziationsimpulse an. Wovon erzählt „Das rote Buch“? Welche Reihenfolgen wären denkbar und welche Geschichten ergäben sich daraus? Und nach Buchkenntnis: Was könnte der Finder am Buchende darin entdecken?
(Der Rote Elefant 40, 2022)