Emmie wurde als 4-Jährige mit ihrer Familie ins Lager Westerbork gebracht, später ins KZ Ravensbrück und nach Bergen-Belsen. David war acht, als er nicht mehr zur Schule durfte und neun, als er mit seiner Familie im Auftrag der faschistischen Regierung Rumäniens ins Ghetto Gura Humorului deportiert wurde. Rolf und Nico waren sechs bzw. drei Jahre alt, als sie in den Niederlanden Sterne tragen mussten und nur noch jüdische Einrichtungen besuchen durften. Bald darauf kamen sie von einem Versteck ins nächste … Diese Vier, deren Kindheit über Jahre hinweg von Angst, Hunger, Tod und Terror geprägt war, überlebten den Holocaust und erklärten sich Jahrzehnte später bereit, ihre Erinnerungen in einer Graphic Novel festhalten zu lassen. In Aber ich lebe werden ihre Schicksale auf drei sehr unterschiedliche, künstlerische Weisen erfahrbar.
Barbara Yelin zeigt in ihren Aquarellzeichnungen Emmie zunächst als alte Frau in ihrem Zuhause in Israel, wo die beiden vier Tage miteinander verbrachten. Der darauffolgende Einstieg in die Erzählung über ein (nachgezeichnetes) Foto von der lachenden Emmie aus glücklichen Tagen öffnet den „Kreis der Hölle“, den Emmie durchlief und der mit einem Foto von Emmie aus dem Jahr 1945 schließt. Zu sehen ist ein Kind mit einem verstörten und verstörenden Gesichtsausdruck: Einerseits scheint Emmies Blick völlig leer, anderseits liegen darin Verzweiflung, Zorn und der verlorene Glaube an die Menschheit. „Ich bin eine Rebellin“, lässt Yelin Emmie dazu sagen. Yelin gestaltet abwechselnd die Alltagsszenen der alten Emmie und die Ereignisse der Vergangenheit, die fast immer mit Emmies Worten „Ich erinnere mich nicht“ eingeleitet werden. Dass sie sich sehr genau erinnern kann, wird im jeweils Folgenden auf fast unerträgliche Weise erzählt. Das in den Gegenwartsszenen sehr präsente Grün lässt offen, wer von beiden voller Hoffnung ist – die Überlebende oder die Künstlerin …
Für Davids Geschichte wählte Miriam Libicki einen Stil, der an ein Kinderbuch erinnert: Sie arbeitete mit kräftigen Farben, plakativen Szenerien, die Figuren wirken comicartig. Diese Gestaltung steht in krassem Gegensatz zu Davids Erinnerungen. Seine Familie entkam einem der Todesmärsche, versteckte sich vier Jahre in einem Wald. Trotz Hunger, Kälte, Krankheit und der Willkür rumänischer Soldaten erleben Vater, Mutter und Sohn das Ende des Krieges. Die Großmutter mussten sie jedoch sterbend am Wegesrand zurücklassen …
Gilad Seliktar erzählt Rolfs und Nicos Geschichte im Gegensatz zu den beiden anderen auf eine eher kühle, distanzierte Weise. Während die Gesprächssituationen bei Yelin und Libicki fast familiär anmuten, setzt Seliktar seine Begegnung mit den Brüdern als Interview in Szene, mit Kamera und Tonaufnahme. In kühlen Blautönen und mattem Gelb gehalten, erfährt man von den Brüdern, dass sie an 13 Orten in den Niederlanden Unterschlupf fanden, sich immer wieder neu anpassen und ständig fürchten mussten, entdeckt zu werden.
Die Herausgeberin entschied klug, diese Geschichte ans Ende zu setzen, zeigt sie doch, dass es inmitten all der Unmenschlichkeit auch Menschen gab, die sich selbst in Gefahr brachten, indem sie von den Nazis verfolgte Menschen bei sich versteckten.
Ergänzt werden die Kindheitserinnerungen von einem Making-of in Comic-Form über die Realisierung des internationalen Buchprojekts. Auch jeder der vier Überlebenden steuerte einen Text bei. Hintergrundartikel über das nationalsozialistische Lagersystem, die komplizierte Situation in Rumänien/Transnistrien und das Überleben in Verstecken setzen die Erinnerungserzählungen in einen historischen Kontext. Ein wichtiger, notwendiger, erschreckend aktueller Beitrag gegen das Vergessen!