Willi lebt auf einem anderen Stern. Folglich gelten für ihn andere Wahrnehmungen, Ausdrucksformen und Gesetzmäßigkeiten. Durch die Idee des phantastischen Herkunftsortes verschafft sich Birte Müller die notwendige emotionale, auch ironische Distanz, um von ihrer Familie und ihrem Sohn zu erzählen, einem Kind mit Down-Syndrom. Entstanden ist ein beeindruckend farbiges, ungeschöntes und darum umso schöneres Bild eines Familienlebens, das maßgeblich durch (die Liebe zu) ein(em) Kind wie Willi bestimmt ist. Komisches und Tragikkomisches halten sich im Buch und im Leben die Waage. Dabei zielen die jeweiligen Doppelseiten (dosierter Text links; detailreiche Bildseite rechts) im Zusammenspiel auf Empathie und rationales Verstehen. Die ästhetische Balance entspricht der des erzählten Lebens: „Irdisches“ und „Außerirdisches“ müssen immer wieder ausbalanciert werden.
Die großformatigen Bilder färbt Birte Müller klar und kräftig mit Acryl. Sie zeigen Willi in flächigen Landschaften und Räumen, angefüllt mit kleinen Fahrzeugen, Blumen oder Tieren. Willis Lieblingstier ‒ die Kuh ‒ findet sich auf jeder Seite. Bewusst orientiert sich Müller an der „art brut“ ‒ der autodidaktischen Kunst von Laien, Kindern und vor allem Menschen mit geistiger Behinderung. Auf der gegenüberliegenden Seite erzählt sie eine „außerirdische“ Episode. Der kunstvollnaive Erzählton lässt ahnen, wie Willi erzählen würde, wenn er könnte. Aber der Text leistet noch mehr. Ohne den Ton zu beschädigen, werden „planetare“ Ursachen für Willis Eigenarten mitgeteilt: „Willis Mund steht oft auf und seine Zunge schaut heraus … Seine Zunge ist einfach nur etwas schlapp, denn man benutzt sie auf Planet Willi höchstens dazu, Gegenstände anzulecken oder feuchte Küsse zu geben …“ Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung unter dem Text skizziert dabei eine Momentaufnahme.
Die Leuchtkraft der Bilder steht für Willis Lebendigkeit und für den Mut seiner Mutter, zum Thema geistige Behinderung ein so kraftvolles und zugleich empfindsames Buch (DJLP-Nominierung 2013, Sachbuch) ins Weltall zu schicken. Hier macht die lange Liste derer, denen am Ende gedankt wird, mal einen Sinn! Der erweiterte Vor- und Nachsatz ist mit 54 Zeichnungen in Schwarz und Rot ausgestattet. Gezeigt werden Willis Gebärden, mit denen er kommuniziert. Kindern einzelne Gebärden in die Hand zu geben, welche sich in den Bildern wiederfinden lassen und somit zu Willis Planet überzusetzen, wäre ein schöner Perspektivwechsel. Oder: Welche der Gebärden könnten die Kinder nutzen, um Willi von ihrem Erleben in Kindergarten oder Schule zu erzählen?
(Der Rote Elefant 31, 2013)