Im Herbst 2019 liest Jenny alias Juri nach dem Tod der Mutter in deren Wohnung einen Brief und eine Geschichte von Sascha, geschrieben 1996, zwei Jahre nach dem „gemeinsamen“ Sommer: Der 13-jährige Ich-Erzähler lebt in Klein Krebslow, in der Siedlung. Als die Familie herzog, gab es noch das „alte Land“. Nun steht der Auszug aus dem Plattenbau an – in ein schickes Reihenhaus, denn nur „Assis“ würden zurückbleiben. Für Sascha ist die Siedlung sein Zuhause, trotz Angst vor den Schläger-Brüdern Pawelke und Unbehagen gegenüber der spionierenden Frau Kletsche. Empfindungen von Einsamkeit und Ausgrenzung in der Schule kompensiert der Protagonist mit einer heimlichen Sammlung einzigartiger, unübersetzbarer Wörter aus meist exotischen Sprachen und mit seinem Freund Sonny, einem eigene Talente erprobenden Elton-John-Anbeter. Dann taucht Juri auf, deren wissensbasierte Vertrautheit mit dem Universum und Verehrung für die erste Kosmonautin im Weltall Sascha fasziniert. Doch Juri verschwindet wieder, nachdem in der Siedlung Gewalt und Gegengewalt eskaliert sind. Mit der Geschichte, die Jenny nun liest, verarbeitete Sascha neben dem persönlichen Verlust seiner ersten Liebe zugleich die damals viele Leben verändernden Umbrüche seines Umfelds.
Stephans Debüt ist ein neuartiges Angebot, Aufwachsen und Nachwendezeit in einer konkreten DDR-Region nachvollziehbar zu machen. Sein Kunstgriff besteht darin, systemisch bedingte Zukunftsfragen mit individueller Sinnsuche zu verknüpfen. Letztere betrifft jede Adoleszenz, jedoch waren in jener Zeit abgebrochener Karrieren und hoffnungsvoller Lebensträume, verkommender und neuer Behausungen sowie sich radikalisierender Feindseligkeiten Jugendliche stark auf sich selbst gestellt. Statt auf gängig eindimensionale Rückblicke und verkürzte Wertungen setzt der Autor auf eine „gelebte“ Perspektive und unvoreingenommen eigen(sinnig)e Sprache (ohne Glossar!). Damit gelingt es ihm, sowohl in seinem langsam reifenden „Helden“ als auch in den Nebenfiguren, echt wirkende Menschen zu gestalten. Stephans reflektierender, bildreicher und jugendfrischer Stil ist von solcher Qualität, dass sich in Denk- und Redeweisen eher beiläufig-unterschwellig ostdeutsche Identitäten und Mentalitäten abbilden, atmosphärisch gestützt durch ausdrucksstarke Schwarz-Weiß-Fotos. Rahmen- und Binnengeschichte weisen unverhoffte Wendungen auf und halten Spannung bis zum je offenen Schluss.
Zum Einstieg böten sich Saschas Listen über „Die Dinge, die ich weiß / Die Dinge, die ich nur zu wissen glaube“ und „Dinge, die Juri und ich nie getan hatten“ an, um Liebesgeschichte und „Zeit“-Problematik einzuführen. Nach der Lektüre könnte Saschas Liste besonderer Wörter ergänzt werden: Nakakakhinayang und Laniakea stehen schon drauf!
(Der Rote Elefant 39, 2021)