China, 1961. Der 14-jährige Schuldirektorsohn Maulbeer Sang, bekannt für exzentrische Streiche, steht im Zentrum eines Panoptikums von Dorfbewohnern, deren Namen so facettenreich sind wie ihre Schicksale. Da sind der von allen gehänselte Glatzenkranich, die unglücklich verliebte Dorfschönheit Weißer-Spatz, das renitente Großmütterchen Qin oder der selbstbewusste Kleiner-Wohlstand, der mit seiner Kaufmanns-Familie tief fällt. Letzteren bekämpft Maulbeer Sang anfangs erbittert als Konkurrenten, später wird er sein loyalster Freund. Denn Maulbeer Sang verändert sich. Am Ende der Kindheit übersteht er eine lebensbedrohliche Krankheit und versöhnt sich mit dem perfektionistischen Vater.
Cao Wenxuan, Literaturprofessor (Pekinger Universität) und Andersen-Preisträger 2016, schildert den dörflichen Mikrokosmos bildgewaltig-poetisch in Parallelgeschichten, worin jeweils eine andere Figur in den Mittelpunkt rückt. Aller Leben, auch nacktes Überleben, richtet sich nach der Natur, den Jahreszeiten, Hitze und Kälte. Reich ist, wer die Kleidung wechseln kann. Aber die Gemeinschaft hält zusammen und lässt Sonderlinge zu. Neben Maulbeer Sangs anarchisch-kindlichen Aktionen, z. B. baut er den Familienschrank zum Taubenschlag um, sind die tragikomischen Szenen um Großmütterchen Qin, die ihr Hausrecht auf dem Schulgelände behauptet und damit erfolgreich die (Dorf)Staatsmacht untergräbt, literarische Meisterstücke. Wenxuan vermittelt: Die neue Zeit und die Regierung sind fern, Schulinspektoren tauchen nur einmal jährlich auf und sind schnell vergessen. Dagegen werden die staatlich verordneten Kulturwettbewerbe begeistert aufgenommen, wobei das Dorf versucht, regional zu glänzen. Sonja Danowskis braungetönte atmosphärisch ausdrucksstarke Aquarelle stützen einzelne Szenen, wobei sie ergänzend jeweils einen Gegenstand frei stellt: einen Kamm, eine Flöte, Essstäbchen – bedeutungsvolle Zeichen für ein Milieu voller Entbehrungen, aber auch der Wertschätzung existentiell wichtiger Dinge.
Das 1997 erschienene Buch wurde in China verfilmt und ist Pflichtlektüre in Schulen. Wie dortige Schüler*innen es rezipieren, verrät das Nachwort der deutschen Ausgabe leider nicht. Hiesigen Leser*innen bietet es eine kurze historisch-kritische Einordnung, darunter den Fakt, dass der „Große Sprung nach vorn“ Ende der 1950er Jahre – also kurz vor der erzählten Zeit des Buches – Millionen Hungertote kostete. Den Roman mit dem heutigen China-Bild in den Medien (Wirtschaftsmacht, Städteboom, Umweltprobleme, staatliche Kontrolle) zu verbinden, fällt hiesigen Leser*innen sicher schwer. Aber am Beispiel von Großmütterchen Qin deutet Wenxuan gewaltsame Modernisierungsprozesse an, welche Menschen überfordern und Widerstand herausfordern. Humanistische Botschaft und sinnliche Erzählkraft machen Wenxuans Roman zu einem nachdrücklichen Leseerlebnis.
(Der Rote Elefant 36, 2018)