„Jeder Tag ist vergeudet, an dem ich nicht gekämpft oder 60 Seiten gelesen habe.“ Dieser Mao Zedong zugeschriebene Satz könnte bei heutigen Jugendlichen auf Unverständnis stoßen. Wofür kämpfen? Warum lesen? In einer Biographie über den „Großen Vorsitzenden“ gilt es also nicht nur Informationen über die Person selbst bereitzustellen, sondern auch Verständnis zu ermöglichen für Denkweisen und Mentalitäten, also für Ideologiegeschichte. Dem stellt sich Charlotte Kerner. In drei Hauptkapiteln, „Der Chinese“, „Der Revolutionär“ und „Der Herrscher“, schildert sie Herkunft und Lebenslauf des Menschen Mao und bettet beides in chinesische Geschichte ein, die zunehmend Teil der Weltgeschichte wurde. Aus einem einst in viele Regionen und zahllose Regionalherrschaften aufgesplitterten, kaum überschaubaren Feudalstaat wurde ein „global player“, ohne den heutige Weltpolitik nicht mehr gedacht werden kann. „Ein Europäer hätte 400 Jahre leben müssen, vom späten Mittelalter bis in die Jetztzeit, um am eigenen Leib die Veränderungen zu erfahren, die im 20. Jahrhundert dieses riesige Land und das Denken seiner Menschen regelrecht umgepflügt haben“, rekapituliert die Autorin. Um davon etwas zu ahnen, führt Kerner in die spezifische Art chinesischer Kultur ein, in der symbolische Handlungen und Redewendungen eine große Rolle spielen. Auch darin war Mao ein Meister, es war ein Teil seines Erfolgs. Davon ließen sich in den 1960er und -70er Jahren westlich geprägte politische Werbestrategien durchaus beeinflussen. Auch sie gingen ikonographisch vor: Mao-Portraits von Gerhard Richter schafften es in die Galerien, die von Andy Warhol auf T-Shirts und die Mao-Bibel, das kleine rote Buch, in die Hände der rebellierenden Studenten von 1968.
Kerner verschweigt weder die ungezählten Toten des „Langen Marsches“, noch die Fehler und Gräueltaten in der Folge der „Kulturrevolution“, sie geht aber darüber hinaus und stellt die aktuelle Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Gewalt. Auf die chinesischen Verhältnisse bezogen (Ende der 1970er war sie ein Jahr Austauschstudentin in China; ihr letzter Besuch fand 2012 statt) glaubt sie einen Hoffnungsschimmer zu sehen, Ansätze einer Graswurzelbewegung gegen die Dominanz der KPCh. Jüngere Leser könnte vor allem der rebellische Geist des jungen Mao interessieren, dessen Lieblingsbuch „Die Räuber vom Liang-Shan-Moor“ hieß, eine chinesische Robin-Hood-Legende. Für weibliche Leser wäre anzumerken, dass ein Hauptmotiv für Maos politisches Handeln der Kampf gegen die Zwangsheirat und für die Gleichberechtigung der Frau war.
(Der Rote Elefant 34, 2016)