Im Haus mit vielen Fenstern wohnen u. a. Frau Neumann, die noch nie einen Mann geküsst hat und gerne einmal das Meer sehen wollte; Frau Reiter, die Geld für eine Fahrkarte nach Hause sucht und nicht weiß, wo sie jetzt wohnt; Frau Wolf, die ihrem früh verstorbenen Mann nachtrauert; Herr Mahler, der Feinmechaniker war und eine sinnvolle Aufgabe vermisst …
Die Autorin und Kunsttherapeutin Charlotte Müller arbeitete lange als Betreuerin in einem Altenheim. Ihr Bilderbuch, das auf dem Vorsatz symbolhaft eine Vergissmeinnicht-Girlande ziert, basiert auf ihr anvertrauten Lebensgeschichten, die sie vorrangig als Ich-Erzählungen wiedergibt. Nur die Geschichte von Frau König offenbart sich über einen Briefwechsel und Frau Zimmermanns Biografie als reine Bildgeschichte. Innerhalb der Illustrationen trennt Müller stilistisch zwischen Erinnerungen und Gegenwart. Auf liebevolle und achtsame Weise gestaltet sie frühere heimische Umgebung (Küche, Bad, Wohnzimmermöbel) und wichtige Gegenstände (Nähseide, Schmuck, Stofftaschentuch) meist mit Wasserfarben, wobei diese Bilder bei aller Präsenz den Eindruck verwischter Erinnerungen suggerieren. Dazu kommen nachgestaltete bzw. reale Fotos, Dokumente, Postkarten und Vignetten, so dass sich die Individualität und Vielfalt jedes z. T. tragischen Schicksals überträgt. Dagegen verblasst die Gegenwart, versinnbildlicht in schematischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Neben leeren Fluren und grundmöblierten Heimzimmern, die Einsamkeit und Vergänglichkeit vermitteln, zeigen eingeschobene Collagen und mit Sprechblasen gestaltete Doppelseiten jedoch auch gemeinschaftliches Miteinander während der Mahlzeiten oder in Aufenthaltsräumen.
Das altersoffene, zu generationsübergreifendem Lesen und Betrachten einladende Buch ab 10 ist eine wahre Schatzkiste. Durch die kunstvolle Kombination von authentisch erzählten, ungeschönten Lebensgeschichten und emotional berührenden Illustrationen regt es zum Nachdenken und zu Gesprächen über Menschen am nahen Lebensende und über den Wert von Erinnerungen an.
Thematik und Ästhetik des Buches aufgreifend, könnten in Familienveranstaltungen Gegenstände aus dem Buch präsentiert und in ihrer Bedeutung für das Leben eines Menschen hinterfragt werden, um sie dann einer Lebensgeschichte der ausgewählten Bewohner*innen zuzuordnen. Anschließend könnten in Schwarz-Weiß-Kopien eines Heimzimmers persönliche Gegenstände hineingezeichnet werden: Dinge, die Kindern bzw. Erwachsenen heute wichtig sind und es vermutlich bis ins hohe Alter bleiben werden.
(Der Rote Elefant 40, 2022)