Etwas völlig Alltägliches geschieht: Hsiao-Yü („Kleiner Fisch“), ein taiwanesisches Mädchen, geht am Nachmittag aus dem Haus, um Eier für das Abendbrot zu kaufen. Trostlos erscheint ihr Weg durch die engen Gassen, vorbei an Wellblechwänden und hohen Häusern mit Fenstergittern; kein Mensch ist auf der Straße, nur Schatten allenthalben.
Für Hsiao-Yü jedoch wird der Eierkauf zum Abenteuer, voller Überraschungen, Wundern und Wundersamem. Kaum aus der Tür, balanciert das Mädchen gemeinsam mit der Schattenkatze auf einem Dach entlang, bellt den in der Sonne schlafenden Hund an, findet eine Murmel, welche die ganze Welt in einen blauen Ozean verwandelt, durch den sie – der kleine Fisch – sich den Weg bahnt. Das Rascheln der Blätter klingt, als würde jemand in einen Keks beißen, die gefundene Brille lässt das Mädchen voller Entzücken an Mama denken und ist Anlass für ein Rollenspiel: den Einkauf im Laden erledigt Hsiao-Yü gewitzt mit ganz „erwachsener“ Haltung und Wortwahl.
Dem – auf den ersten Blick – unscheinbar daherkommenden Bilderbuch wohnt die Magie kindlicher Weltwahrnehmung inne. Chen Chih-Yuan zeigt die Lust, mit der ein Kind seine Umwelt erkundet, die geheimnisvoll ist und voller sinnlicher Eindrücke. Kleinste Begebenheiten und Gegenstände regen die spielerische Auseinandersetzung mit dieser Welt und die Vorstellungskraft an. Dem inneren Gedanken- und Ideenreichtum Hsiao-Yüs, der Fülle ihrer Phantasie, setzt Chen Chih-Yuan Schlichtheit und Zurückhaltung in der Gestaltung der äußeren Welt gegenüber. Für seine Collagen arbeitet er mit Packpapier, Wellpappe und Kreiden. Licht und Schatten sind wichtige Gestaltungselemente, verdeutlichen Perspektiven, Größe und Dimension der nüchtern wirkenden Umwelt. Weiß und verschiedene Braun- und Grautöne dominieren die großformatigen Bilder, Farbakzente werden sparsam-wirkungsvoll gesetzt: gelb leuchten die Katzenaugen, rot die Blütenblätter einer einzelnen Blume, bunt die Deckel der Gläser mit Süßigkeiten. Nur beim Blick durch die Murmel ergießt sich ein helles Blau nahezu über eine komplette Doppelseite.
Dieses Bilderbuch ist zweisprachig – der deutsche Text ist unterhalb der chinesischen Schriftzeichen platziert. Auf der letzten Buchseite finden sich Anmerkungen des Übersetzers, u. a. hinsichtlich der Entstehung der chinesischen Schrift und der Art und Weise, wie die Kinder diese erlernen. Ein Schriftzeichen fällt in diesem Buch besonders auf – es wird zum Gestaltungselement der Illustration. Was könnte dieses Zeichen wohl bedeuten?
(Der Rote Elefant 28, 2010)