„Tag für Tag höhlt das Wasser Tropfen um Tropfen den harten Stein. Auf gleiche Weise führt auch beim Menschen Ausdauer zum Erfolg“. Diesen Worten des buddhistischen Meisters Yang fühlt sich auch der Künstlers Chen Jianghong verpflichtet, dem es auf eindrucksvolle Weise gelingt, den Betrachter dieses Buches in das ferne Asien zu entführen. Die Geschichte spielt im Alten China. Als Meister Yang eines Abends einen kleinen Jungen schlafend im Schnee findet, nimmt er sich seiner an. Merkwürdige Geräusche und Schatten lassen den Jungen eines Nachts erwachen. Er beobachtet, wie Meister Yang Bewegungen wie ein Adler ausführt, und ahmt ihn heimlich nach. Als er die erlernten Bewegungen bei einer Rauferei einsetzt, ruft dies den Zorn des Meisters hervor. Trotzdem ernennt ihn dieser zu seinem Schüler und unterweist ihn in der Kunst des Adler-Boxens, einer Art des Kung-Fu.
Junger Adler lernt schnell, die Bewegungen fehlerfrei auszuführen. Allerdings ist dies nur der Anfang einer jahrelangen Ausbildung, währenddessen sich der Junge in Fleiß und Geduld üben, Schmerz und Erschöpfung überwinden, die Sinne schärfen und Konzentration erlernen muss, um Körper und Geist zu beherrschen. Doch erst im Zweikampf mit Meister Yang selbst erreicht er die Vollkommenheit, die ihm gestattet, das Erbe des Lehrers anzutreten. Als dieser in einem unfairen Kampf tödlich verwundet wird, ist es an Junger Adler, die Tradition des Adler-Boxens zu bewahren und fortzuführen.
Chen Jianghong nutzt für seine Illustrationen das traditionelle chinesische Trägermaterial Reispapier, tuscht darauf mit breitem Pinsel und deckt ganze Flächen mit Farben, z.B. Deckweiß, ab. Chinesischer Malereitradition entsprechend geht es ihm weniger um Realismus als um die Vermittlung von Stimmungen, welche den lakonischen Text emotional verstärken. So stehen den Kälte und Düsternis vermittelnden Grau-, Blau- und Weißtönen des Winterabends leuchtend-warme Gelb- und Rottöne im Haus des Meisters gegenüber: dort erfährt der Junge Geborgenheit. Auch werden ganze Bewegungsabläufe, z.B. die des Adlers, entsprechend der Kampftechnik des Kung Fu fast wie in Zeitlupe detailgenau ins Bild gesetzt.
Statik und Dynamik bedingen einander. Junger Adler ist für Kinder verschiedener Altersstufen reizvoll. Jüngere mögen sich allein vom Thema „Kampfsport“ angesprochen fühlen. Älteren vermitteln sich buddhistische Weisheiten oder Ansichten zu einer Ethik des Kampfes. Übungen zu Konzentration und Wahrnehmung können die Beschäftigung mit der Geschichte einleiten: Wie klingen z. B. die Schwingungen eines Geldstücks, das an einem Faden hängt? Oder: Wie sieht ein bestimmter Bewegungsablauf in Zeitlupe aus?
(Der Rote Elefant 25, 2007)