„Als sei es gestern gewesen.“ Eine alte Frau mit Katze schaut sich Fotos in dicken Alben an und erinnert sich. Daran, wie sie als Kind im Garten hinterm Haus auf der Schaukel saß und träumte: von einer Zeit ohne Alarmsirenen, Bomben und Angst. Eine gute Zeit sollte es sein, eine mit dem Vater, der dann nie mehr fortgehen würde.

Doch dann wurde die Stadt zerbombt; Mutter und Tochter kamen auf einen Bauernhof. „Willkommen waren wir nicht. Wir waren Fremde.“ Es gab dort auch andere Fremde, die in der Scheune hausten: ukrainische Zwangsarbeiter; unter ihnen ein junges Mädchen mit blonden Zöpfen – Anna. Mit Anna konnte die Ich-Erzählerin fröhlich sein, erlebte „helle Momente in dieser dunklen Zeit“.

Aber der Krieg kam näher und näher. „Dann war er über uns.“ Die auf dem Feld Arbeitenden wurden von einem Flugzeugangriff überrascht und beschossen. Anna starb und die Zurückbleibende versank in Trauer. Anna jedoch wird ihr gegenwärtig bleiben, über die Zeit hinweg bis ins hohe Alter.

Das Künstlerpaar Christina Laube und Mehrdad Zaeri legt mit Anna – Was die Zeit nicht heilt seine erste Graphic Novel vor. Anlass war eine per E-Mail an sie gesandte Bitte einer älteren Dame: Diese wünschte sich, Annas (und ihre eigene Geschichte) möge nicht in Vergessenheit geraten, sondern bewahrt werden. Laube und Zaeri kamen dem Wunsch nach. Entstanden ist ein berührendes, sensibles, mutiges und auch schonungsloses Antikriegsbuch von großer Intensität. Es lässt die Dimension des Leids, das Kriege immer und jederzeit auslösen, erahnen, hier am Beispiel einer Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Was der Verlust von geliebten Menschen bedeutet, dass erlittene Traumatisierungen lebensbegleitend sind, wird in atmosphärischen Bildern und poetisch-dichtem Text erzählt. Die beiden Künstler eröffnen Raum für das Sich-Zeit-Lassen, zum Innehalten, Nachsinnen, Verarbeiten. Meisterhaft! Beeindruckend ist zum Beispiel die Gestaltung der Rahmenhandlung. Diese kommt über neun der großformatigen Doppelseiten hinweg (vier am Anfang, fünf am Ende) fast ohne Worte aus.

Die Betrachter nähern sich der einsam und nachdenklich wirkenden Hauptfigur und Ich-Erzählerin Panel für Panel, zoomartig mittels abwechslungsreich gestalteter Einzelbilder mit Frontal- und Rückenansichten, Halbprofilen, Anschnitten, Perspektivwechseln.

Die Seiten der Rahmenhandlung sind weiß umrandet, die der Binnenerzählung schwarz. Mehrdad Zaeris Bilder auf beigefarbenem, faserreich beziehungsweise leinenähnlich wirkendem Untergrund sind ausnahmslos digital entstanden und erinnern an vergilbte Schwarzweißfotos, wie sie auch im Album der sich erinnernden Frau zu finden sind. Immer wieder taucht etwa die Schaukel auf, die Ort der Verbindung mit ihrem Vater und ihrem eigenen Inneren ist.

Für Kinder ab 10 eignet sich die Bilderbuch-Graphic Novel eher zum individuell begleiteten Lesen; mit Kindern ab 12 Jahren kann über die ersten vier Doppelseiten ein Einstieg in die Geschichte gelingen. Dieses Buch sollte, nicht nur angesichts der aktuellen Kriege und Fluchtbewegungen, in jeder öffentlichen Bibliothek zugänglich sein.

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