Der Kollektorgang ist die unterirdische Verbindung zwischen den Neubaublöcken, in dem Versorgungsleitungen zusammenlaufen. Für Mario und andere Jugendliche der Abenteuerort, wo sich – außer auf den Höfen – das Leben abspielt. „Es war trist. Es war unheimlich. Es war großartig.“ Für Ich-Erzähler Mario ist das alles Vergangenheit, er wurde nur 13 Jahre alt. Jetzt sitzt er als Gespenst auf seinem Grabstein und versucht zu verstehen, was passiert ist. Auf dem Nachbargrabstein hockt das Gespenst von Hoffmann, früher Bauingenieur beim Rat der Stadt, nach 1989 arbeitslos geworden und schon da, als Marios Urne in die Erde gesenkt wird. Hoffmann holt Mario auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn dieser zu wild fantasiert, um in Fetzen aus Erinnerungen einen Sinn zu finden: Da sind der Sandkasten, die Kriegsspiele, die Zündplättchen, der Freund Stefan, der im Flur einen Jungen zusammenschlägt, die Begegnung mit Rajko und seiner Schwester, beide Flüchtlinge aus dem Jugoslawien-Krieg, der Urlaub mit der Mutter an der Ostsee ohne Vater und schließlich Ricki und seine Gang. In einem dramatischen Finale kommt es zu einem unfairen Kampf zwischen Ricki und dem „Jugo“ Rajko, bei dem auch Mario einen Messerstich abkriegt. Alles weit weg, noch weiter als die eigene Beerdigung, der Mario mit Interesse zusah. Was bleibt, ist Resignation. „Es ist unmöglich, an eine zweite Chance zu glauben, wenn man nicht einmal eine erste hatte.“
Angesiedelt in der Nachwendezeit skizziert David Blum das Leben von Kindern und Jugendlichen in der „Platte“ samt Entstehung faschistoider Jugendgangs, die sich um einen „Führer“ scharen und „Ordnung“ schaffen wollen. Der Autor, auch Verfasser von Stadtführern über die ostdeutschen Städte Magdeburg, Leipzig und Dresden, kennt sich im Milieu aus. In seinem „Kollektorgang“ als Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen kulminieren aus Perspektivlosigkeit gewachsene Aggressionen, wie sie in Marios Reflexionen untergründig mitschwingen. Dessen Erinnerungsfetzen entspricht die Romanform, zusammengesetzt aus, meist nur zwei Seiten umfassenden Erzählstücken. So vermittelt sich das Kaleidoskop eines kurzen, tragisch endenden Lebens, verstärkt durch den skurrilen Erzählrahmen „Friedhof“. Ob Mario durch Zufall oder Absicht starb, lässt der Autor ebenso offen wie das Motiv für die Schluss-„Anmerkung“. Darin wird an den von Nazis ermordeten Sinto-Boxer Trollmann erinnert. Gab dies die Buchanregung, soll das Buch die Erinnerung daran wachrufen?