Die 900 Tage dauernde Belagerung der Millionenstadt Leningrad (heute St. Petersburg) ist nur eines der unvorstellbaren Menschheitsverbrechen, welche das Deutsche Reich innerhalb des von ihm zu verantwortenden Zweiten Weltkriegs begangen hat. Auf persönlichen Befehl Hitlers sollte Leningrad samt Bevölkerung vom Erdboden verschwinden. Die ersten Monate der Belagerung sind der Hintergrund und das eigentliche Thema des italienischen Autors, dessen Großvater Teilnehmer des Russlandfeldzugs war. Der deutsche Titel und die Titelillustration – zwei Personen laufen durch einen Winterwald – sind eklatante Fehlgriffe, weil sie das Geschehen auf „Abenteuer“ reduzieren. Die Romanhandlung erzählt vom Schicksal zweier Geschwister, die bei der Evakuierung aus Leningrad 1941 durch einen Zufall getrennt werden und sich nach Gefahren und Strapazen, die sie mehrfach das Leben hätten kosten können, wiederfinden. Ihre jeweilige Geschichte wird aufgrund von Tagebuchaufzeichnungen (jeweils in anderer Farbe gedruckt) erzählt und durch authentisch wirkende Quellen (Fotos, Landkarten, Zeichnungen, Zeitungsartikel) anschaulich gemacht. Ein besonderer Effekt und erzählstrategischer Kniff des Autors besteht darin, dass die Aufzeichnungen von einem politischen Zensor mitgelesen werden. Bevor also die Tagebücher beginnen, gibt es ein Dokument des „Volkskommissariats für innere Angelegenheiten“, das die folgenden Texte als „nicht konform und gefährlich“ bezeichnet. Ein Zensor liest sie und macht dies durch handschriftliche Anmerkungen auf den Tagebuchseiten deutlich. Er merkt dutzende von Gesetzesübertretungen unter Hinweis auf die jeweiligen Paragraphen an. Das verweist darauf, dass die Geschwister, zum Zeitpunkt des Geschehens 13 Jahre alt, nach Kriegsende, 1946, vor einem sowjetischen Gericht standen, aber schließlich freigesprochen wurden. Den manchmal extrem dramatisch zugespitzten Abenteuern wird auf diese Weise eine ernstzunehmende politische und historische Folie unterlegt. Der Leser erhält eine dreifache Rolle: 1. das spannende Geschehen zu verfolgen, 2. die „Zensur“ wahrzunehmen und 3. eine eigene Haltung zu den politisch motivierten Anmerkungen zu entwickeln. Aufregend und anspruchsvoll!
Wie der Autor in seinem Nachwort betont, soll seine Arbeit jenseits der abenteuerlichen Geschichte nicht nur die Erinnerung an das historische Geschehen wachhalten, sondern auch ein aktuelles Mahnmal gegen jeden neuen Krieg sein.
(Der Rote Elefant 37, 2019)