„Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?“ fragt ein Kind seinen Vater, der es zu Bett bringt. „Die wundersamsten Dinge“, antwortet dieser und beginnt zu erzählen: Da hebt ein Kran Traumpakete in alle Kinderzimmer und der Blauwal traut sich im Schwimmbad an die Wasseroberfläche, da „neigen die Laternen ihre Köpfe zu Boden und trinken aus den Pfützen“ oder es „krönen die Katzen eine neue Königin“. Das Kind fragt nach: „Und die alte?“ Der Vater antwortet: „Ist abgewählt. Jede Nacht ist eine andere Katze Königin.“ „UND DANN?“ Dann erzählt der Vater weiter, von den Ereignissen jeder einzelnen Stunde der Nacht.
Dem Autor und Journalisten Dirk Gieselmann ist ein Text gelungen, der Kindern ab 4 Jahren viel zutraut. Das bekannte Sujet der (Gute-)Nachtgeschichte wird erfindungsreich-originell ausgelotet und lustvoll-surreal geweitet. Im Dialog erfindet der Vater – beginnend mit „Um neun Uhr, jetzt gleich, wenn Du die Augen schließt“ bis „Um sechs Uhr, wenn die Nacht beinah vorüber ist“ – geheimnisvolle Szenen. Sein Kind entlockt ihm durch Nachfragen, knappe Kommentare und das den Erzählfluss verlässlich am Laufen haltende „UND DANN?“ immer neue fantastische Geschehnisse. Dabei offenbaren vom Tage bekannte Wesen und Dinge (wie Motten, Fichten, Telefone) in der Nacht ein wundersames, oft sehnsuchtsvolles Eigenleben.
Auf der Bildebene werden der (Spielzeug-)Wal und die (Aufzieh-)Katze aus dem abendlichen Kinderzimmer sowie der Baukran vor dem Fenster in die Erzählung eingewoben. Für jede Stunde hat Stella Dreis eine großformatige, mal ein-, meist doppelseitige Illustration in analog-digitaler Mischtechnik gestaltet.
Diese eröffnet dem Blick der Betrachter*innen einen magisch anmutenden Raum von teils unendlich wirkender Tiefe. In den (nacht-)dunklen Farbflächen aus Blau-, Grün-, Brauntönen und Schwarz scheinen helle Bildelemente vor dem Auge aufzuleuchten. Mond, Sterne und menschengemachte Lichtquellen lassen stellenweise mehr von den nächtlichen Begebnissen sichtbar werden. Der Dialog zwischen Kind und Vater findet in der Bild-Text-Beziehung eine reizvolle Entsprechung. Wenn das Kind sagt: „Papa! Erzähl mir keine Märchen!“, sitzt im Bild eine übergroße Alice nebst weißem Kaninchen und Humpty Dumpty einem auf dem Vollmond reitenden Baron Münchhausen gegenüber. Dessen halbes Pferd grast im Miniatur-Fichtenwald.
Was geschieht in der Nacht, der Gegenwelt zum Tag? Nach dieser Frage könnten Kinder einzelne, im Buch nicht illustrierte Zeilen des Textes bildlich gestalten. Wie sieht es aus, wenn Statuen miteinander Verstecken spielen oder der Fuchs ein Mondbad nimmt?