In diesem Bilderbuch begleitet der Betrachter ein namenloses Mädchen auf eine Traum-Reise: Die „Weltenträumerin“ springt aus dem Fenster eines eingeschneiten Waldhauses in ein überdimensionales Buch und hinein in verschiedene Erdzeitalter. Sie durchlebt Eiszeit, Dürre, Vulkanausbruch, Vegetation. Am Ende sitzt sie mit geschlossenen Augen im Rollstuhl.
Das textlose, großformatige Buch besticht durch seinen immensen Schauwert. So wie sich im Kopf des Kindes Phantasie und Realität überlagern, gehen auch Steinhöfels Illustrationen mit den Fotografien des Geologen und Klimatologen Andreas Pflitsch eine beeindruckende Symbiose ein, indem er die Fotos übermalte. Die gewaltigen, kunstvollen Bilder bedecken je eine (Doppel)Seite. Durch das Schlüsselloch der Tür eines Studierzimmers entdeckt der Betrachter naturwissenschaftliche Werke und Journale über die Entstehung von Welt und Sternen, aber auch fiktionale Abenteuer- und Reiseliteratur. Das barfüßige Kind im Nachthemd stöbert darin. Ätherisch-engelsgleich erkundet es später Zeit und Raum. Mimik und Körperhaltung zeugen vom Erlebten. Die Protagonistin wirkt erschöpft, als sie im Eis schläft, staunend, als sie nach der Schmelze auf der Erdoberfläche erwacht, wütend, als sie dem Lavastrom davonläuft. Verträumt betritt sie später das nun fruchtbare Erdinnere und reagiert panisch als Wurzeln sie umschließen und durch riesige, berstende Bücher hindurch zurück ins Haus ziehen. Auf dem Tisch steht eine mit Wurzeln gefüllte Vase, ähnlich einer Weltkugel, die das Kind auf der Traum-Reise begleitete.
Auch die gemalten Buchrücken am Innenrand jeder Illustration verweisen auf die Traumebene. Zu Beginn einer jeden Reise-Etappe fehlen sie jedoch: Der Betrachter sieht das menschenleere Studierzimmer verschneit oder brennend, nur ein aufgeschlagenes Buch bleibt jeweils unversehrt und signalisiert die nächste Station: Reise zum Mittelpunkt der Erde/Jules Verne, Letzte Fahrt/Robert Falcon Scott, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts/ Johann Heinrich Pestalozzi, Die letzten Tage von Pompeji/Edward Bulwer-Lytton. Darin thematisierte Einsamkeit von Figuren, Philosophen und Forschern findet ihr Pendant in der Isolation der Träumenden: Weder in der realen noch in der imaginierten Welt existieren Lebewesen. Das Studierzimmer birgt keine Hinweise auf Familie. Am Ende sieht der Betrachter durch das Schlüsselloch nur die Tapete.
Ein melancholisch stimmendes, philosophisches Bilderbuch über Einsamkeit, Sehnsucht und Flucht, Naturgewalten, Wissensdrang und die Kraft der Phantasie. Aber auch über Sinnsuche, damit verbundene Notwendigkeit und Gefahr von Grenzüberschreitungen – und deren Preis.
(Der Rote Elefant 34, 2016)