Der junge Täuberich Telemark fürchtet die Sturzflugprüfung, denn er kann nicht navigieren. Noch sieben Tauben sind vor ihm – Telemark sieht die stille Enttäuschung der Eltern bereits vor sich: Wird er erneut auf den gefährlichen Menschen landen? Picken ihm die Spatzen wieder den angepeilten Krümel weg? Seine Freunde nennen ihn „Schielemark“ und sein Lehrer mahnt mehr „Männlichkeit“ an. Und dann startet Telemark und plumpst „kopfüber … in eine Salatschüssel“… aber: – oh Wunder – die verstörten Menschen verschwinden. Das Festmahl gehört den Tauben! Nun gilt Telemark als gefeierter Erfinder des international nachgeahmten Salatsprungs, doch noch Jahre später zweifelt er an sich … „Aber dann legte Schnäbelchen immer ihren Kopf an den von Telemark und sagte: „Sei ruhig. Du hast getan, was du getan hast, weil du nicht konntest, was du nicht konntest. Und das macht gar nichts. Wirklich, Lieber, das macht sowas von gar nichts!“
Dem Autor gelingt eine tragikomisch-zeitlose Parabel über Anderssein und Erwachsenwerden. Auf mehrdeutige Weise erzählt er von Angst, Scham und Spott, von Mut, Durchhaltevermögen und Alternativen. Der Name Telemark ist Programm, ist doch die „Telemarklandung“ die Krönung eines jeden Skisprungs! Die starke emotionale Wirkung beruht vorrangig auf der bildkünstlerischen Gestaltung, dem Zusammenspiel von Bild und Text und den ausdrucksstarken, großformatigen Illustrationen von Alain Verster, der mit diesem Bilderbuch seine Diplomarbeit vorlegt.
Inhaltsbezogen wechseln die Schriftgrößen: Telemarks Schüchternheit gemäß ist der ihn betreffende Text in Minischrift gesetzt. In großem Font dagegen – wie über einen Lautsprecher – erscheinen Aufruf und Benotung der Tauben. Versters Fotomontagen zeigen Gegenstände, Vögel und Menschen vor verblassten Hintergründen – koloriert im Stil alter Lichtbilder. Die verfremdeten Szenerien stützen stimmungsbildend – fast wie in Zeitlupe – die sich steigernde Spannung hin zum erlösenden „Plumps“. Zentrale Handlungsmomente sind treffend wiedergegeben: Telemark etwa setzt sich durch eine rötliche Farbgebung und eine Mütze von anderen ab und lugt verloren-vorsichtig über den Rand des hohen Startturms. Andere Illustrationsdetails scheinen dekorativer Art zu sein: eine kleine Unterhose in einem Baum oder Knöpfe an einer alten Tapete.
Die anthropomorphisierte Geschichte eines Außenseiters ist ein Geschenk für kleine und große Leser/Betrachter mit Minderwertigkeitsgefühlen oder Handicaps – für alle anderen ein Angebot zum Mitfühlen und Mitdenken. Zum Einstieg könnte man Tauben beobachten: Wirken diese alle gleich? Was sagen ihre Bewegungen über ihr Wesen aus? Sind verschiedene Charaktere zu erkennen? Haben Tauben irgendetwas „Menschliches“ an sich?
(Der Rote Elefant 30, 2012)