„Meisterin!“ Lena ist seltsam-freudig berührt. Sie – eine Meisterin? Genau dies haben ihr dreizehn kleine blaue Hirsche – der Blumenvase in der Küche entsprungen – ins Ohr geflüstert. Und sie haben sich vor ihr verneigt. In Lena wirkt diese Begegnung nach, sie spürt eine tiefe Freude und Zuversicht, fühlt sich gestärkt. Schließlich muss sie oft Rücksicht nehmen und Ruhe bewahren, wenn „die kurze Zündschnur“ ihres älteren Bruders Raff mal wieder ein Feuerwerk entfacht oder eine kleine Bombe explodieren lässt. „Feuer löscht man mit Wasser. Nicht mit noch mehr Feuer“, weiß Lena von ihrem Papa. Also verhält sie sich, wie die Eltern auch, still und hofft, Raffs Wutausbrüchen glimpflich zu entkommen. Doch greift Raff die Schwester auch körperlich an. Wie überrascht ist Lena, als sie von Raff erfährt, dass dieser auch einmal „Meister“ genannt wurde. Und er warnt sie davor, ihr Geheimnis zu verraten, will sie die Hirsche jemals wiedersehen …
Edward van de Vendel gestaltet eine besondere Geschwisterbeziehung in der Polarisation von Aggressivität und Anpassung. Jedem Kind stellt er ein Schutz- bzw. Krafttier an die Seite, das Verkörperung dessen seelischer Befindlichkeit ist. Er lässt die Tiere einer anderen Welt entspringen und auch wieder in diese zurückkehren, z. B. ins Buch „Mio, mein Mio“, in dem vom „Land der Ferne“ die Rede ist. Mit diesem phantastischen Element ist eine Konfliktlösung möglich, die sich auf die reale Beziehung der Kinder auswirkt. Es wird ein Reifungsprozess deutlich, dem auch der allmähliche Abschied von Kindheit innewohnt. Als beide Kinder mit ansehen, wie Lenas sanfte Hirsche von Raffs scharfkralligem Löwen angegriffen werden, gilt es zu handeln. Raff schafft es, dank Lenas Hilfe, seinem Löwen Einhalt zu gebieten. Und Lena wird von Raff ermuntert, ihre Hirsche mit einem „Nein“ zu zügeln. Sie nehmen dazu beide die Perspektive des anderen ein und überschreiten eine Grenze, um Neues zu erproben. Beide wissen, dass ihre Tiere nicht mehr zu ihnen zurückkehren werden. Zukünftig werden sie weniger gegeneinander, sondern mehr miteinander handeln, denn das Verständnis füreinander ist gewachsen.
Das Buch ist ungewöhnlich im Zusammenspiel von Text, Bildern und Gestaltung. Mattias de Leeuws zahlreiche, oft ganzseitige und seitenübergreifende Tusche-Zeichnungen interpretieren, kommentieren z. T. expressiv und erweitern das im Text Erzählte. So zeigt er die „Meisterin“ Lena mit Umhang und Krone oder gibt Einblick in den Kopf des wütenden Raff – vor flammendrotem Hintergrund. Diese Seite ist eine der wenigen, die ohne das zarte Blau der Hirsche auskommt. Und könnte als Einstieg zu einer Veranstaltung dienen: Was geht in diesem Kopf wohl vor sich?
(Der Rote Elefant 33, 2015)