„Alle guten Dinge sind wild und frei“, statuierte der amerikanischer Philosoph Henry Thoreau bereits im 19. Jahrhundert.
Dieser Satz gilt auch für diese humorvolle Zivilisations-Dystopie, worin ein Kind wild und frei im Wald lebt – bis Menschen es entdecken. Die Regeln im Stadthaus eines freudlosen Psychiaters und seiner grimmig blickenden Frau erweisen sich für die Kleine als so sinnentleert, dass sie in den Wald zurückkehrt.
Sind „wilde Kinder“ in der Literatur oft männlich – z. B. in „Dschungelbuch“ oder „Victor“ (1999, DJLP-Nominierungsliste) – kürte die in England lebende, hawaiianische Künstlerin in ihrem Bilderbuchdebüt ein Mädchen zur selbstbestimmten Heldin. Da Sprache ein deutliches Merkmal für Zivilisation ist, dominieren in „Wild“ die Illustrationen. Nur knappe Sätze ergänzen prononciert malerische, detailreiche Tinte-, Bleistift- und Tuschezeichnungen. Die meist doppelseitigen Bilder wirken mal anrührend, mal komisch. Im üppig grün-bunten Wald ist das selig lächelnde Wolfskind nackt, trägt Blumen in der grünen Mähne und hat – wie die friedlichen Waldtiere – große, unschuldige Kulleraugen. Obwohl die Menschen dem Kind Dutt, Kleid und weiße Söckchen aufzwingen, bleibt es herzzerreißend duldsam. Einzige Rebellion: die gekonnte Demontage der Wohnzimmereinrichtung („Genug war genug!“).
Naturdasein und Zivilisation werden überspitzt gegeneinandergestellt, obwohl in beiden instruiert und gelernt wird. Die Waldtiere lehren das Mädchen sich zu verständigen, essen und spielen: „Sie verstand alles und war glücklich“. Die Stadtmenschen dagegen machen „alles falsch“, auch das Lehren von Sprechen, Essen und Spielen, woraus folgt: „Sie verstand nichts und war unglücklich“. Absolute Wild- und Freiheit gibt es nicht (mehr), aber Anarchismus macht Spaß und fördert Kreativität – bei Kindern und Erwachsenen. Wann fühlen sich Kinder heutzutage eigentlich wild und frei? Im Sinne entsprechender Antworten auf diese Frage ermuntert das Buch auch Eltern dazu, Spielfreude und Entdeckerdrang ihres Nachwuchses nicht durch unnütze Regeln zu hemmen, sondern sich vielmehr inspirieren zu lassen. Gemeinsames Lesen und Betrachten von „Wild“ könnte dabei als wunderbarer Ideengeber dienen. Das gilt auch für eine Buchvorstellung innerhalb einer Kindergruppe.
(Der Rote Elefant 33, 2015)