Der Umzug in die neue Wohnsiedlung verändert alles für die zehnjährige Marie. Ihre Mutter hat einen neuen Job, und Marie muss ihr Zuhause, die Schule und ihre allerbeste Freundin Zoë zurücklassen. Im öden „gelben Viertel“ gleicht ein Neubauhaus dem anderen. Bald lernt Marie das Nachbarskind Jente kennen – und ihre Sommerferien werden alles andere als langweilig. Jente sprudelt nur so vor verrückten Ideen. So klettern sie auf einer Baustelle herum, fahren heimlich Motorrad und suchen eine Moorleiche. Oder sie lesen Comics in ihrem Geheimversteck, der „Kuhle“. Doch irgendetwas stimmt mit ihrer Freundschaft nicht. Erst ist es nur ein seltsames Gefühl, doch als Jente ihr Versteck an die coolen Nachbarjungs verrät, beginnt Marie, die Freundschaft zu hinterfragen.
Nach Ich bin Vincent und ich habe keine Angst (DJLP-Nominierung 2020, Sparte Kinderbuch) legt die niederländische Schriftstellerin Enne Koens ein Kinderbuch vor, das sich intensiv mit der Suche nach Identität und der Definition von Freundschaft beschäftigt. Koens gelingt es, mit der Figur der Jente einen außergewöhnlichen, ambivalenten Charakter zu zeichnen. Die Leser*innen lernen Jente durch Maries rückblickende Erzählung als ideenreich und unberechenbar kennen. Gesprächsfetzen Erwachsener, die Marie aufschnappt, öffnen Interpretationsraum. Fragen entstehen, bleiben offen: Warum bekommt Jente so heftige Wutanfälle? Warum ist es so wichtig, dass sie regelmäßig isst? Warum fürchtet sie sich vor der Schule, scheint ansonsten aber keine Ängste oder Skrupel zu haben? Als der Welpe einer Nachbarin, den die Mädchen beaufsichtigen, verloren geht, findet Jente, dass sich die Nachbarin „mal nicht so anstellen“ soll, während Marie beunruhigt und voller Sorge ist – und ein schlechtes Gewissen hat. Jente verliert manchmal die Kontrolle und scheint sich ihres Dominanzverhaltens, ihrer Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber nicht bewusst zu sein.
Enne Koens gelingt es überzeugend, Maries Verunsicherung und ihre Ängste darzustellen in dem schwierigen Erkenntnisprozess, dass Jente sie in ihren Entscheidungen manipuliert hat – und sie sich hat manipulieren lassen. „Als blasse Stubenhockerin war ich hier angekommen. Damals brauchte ich mich noch nicht zu trauen, denn damals kannte ich Jente noch nicht.“ Doch am Ende traut sich Marie und schafft es, „Nein“ zu sagen.
Der Einstieg ins Buch könnte mit den assoziationsreichen Illustrationen und Gedichten, die den drei Teilen des Kinderomans vorangestellt sind, gelingen. Was für eine Geschichte deutet sich hier an?