Nach dem Freitod der Mutter, einer Tänzerin, die an Multipler Sklerose erkrankt war und drei Monate in der „Irrenanstalt“ verbrachte, baut sich die 11-jährige Vogelkennerin Naomi ein Nest aus Decken, Kissen und Kleidungsstücken. So schläft sie zwischen Schreibtisch und Wand, während Dad, die 14-jährige Schwester Rachel, Großeltern und Freunde – nach jüdischem Brauch – drei Mal die Woche drei Stunden im Haus trauern. Wären sie orthodoxe Juden, dauerte „das Getue sieben Tage“! Das überstrapazierte „Ich bin immer für dich da“, Geschäftigkeit und ständiges Essen hält Naomi nicht mehr aus. Zuerst will sie nur weg, später nach Boston, zum See mit Booten, die wie Schwäne aussehen. Vor Ort hofft sie, alle Momente eines schönen Tages mit der Mutter zu erinnern und den netten Bootsführer zu treffen, der sich mit erinnert. Freund Joey, laut Dad aus einer Familie „mit ernsthaften Problemen“, begleitet Naomi. Die Erwartungen erfüllen sich nicht, aber der damit verbundene emotionale Ausbruch Naomis wirkt letztlich heilend. Ausbrüche aller Figuren sind für diesen psychologisch vielschichtigen Roman bestimmend. Auch die Entscheidung der lebenslang depressiven Mutter ist ein Ausbruch. Als Kind litt sie unter einer „Chaleria“, was im Jüdischen „hartherzige Mutter“ bedeutet, und wollte deshalb ihren Kindern ein Nest voller Geborgenheit schaffen. Auf sich selbst schützende und deshalb z. T. altkluge Weise beobachtet die Ich-Erzählerin die familiäre Ausnahmesituation. Dabei zeigen sich Stereotype, die einen ehrlichen Umgang miteinander erschweren. „Alle müssen sich jetzt sehr lieben“, sagt Psychotherapeut Dad. Plötzlich ist „gemeinsames Fernsehen großartig“, wo früher „viele bessere Beschäftigungen“ angesagt waren, „die das Leben reicher machen“. Die 14-jährige Rachel fühlt sich berufen, die Mutter zu kopieren, was Naomi wütend macht. Nur Joey erweist sich als authentisch. An ihn binden Naomi Quatsch-Rituale. Aber sie darf auch traurig, schweigsam oder aggressiv sein, z. B. lustvoll Steine auf ein verlassenes Glashaus werfen, das später als erster Ort zum Übernachten nach der Flucht von zu Hause dient.
Da die Handlung 1972 spielt, wird heutigen jungen Lesern manches fremd sein, etwa Musik-Bezüge (Beatles, Bob Dylan), die autoritäre Schule, wo Lautstärke mit „Köpfe auf die Bank legen“ geahndet wird, oder die Einwanderung der jüdischen Familie der Mutter aus Russland. Atmosphärisch jedoch grundieren diese Fakten das Erzählte und vertiefen das Verständnis dafür, warum Naomi so ist, wie sie ist. Trotzdem verlangt „Nest“, worin jeder Figur epische Gerechtigkeit widerfährt und trotzdem vieles ungesagt bleibt, einen geübten Leser und eignet sich eher zur individuellen Lektüre.
(Der Rote Elefant 35, 2017)