„ICH HEISSE KOCHOLO. ICH HABE MEHR ALS SECHS LÄNDER durchquert und dabei das Meer, flaches Land und hohe Berge überwunden.“ Kocholo ist aus Afghanistan geflüchtet und auf dem Weg nach Kanada. Doch in der Schweiz wartet die Polizei auf dem Bahnsteig und seine Reise endet in Zürich. In der Unterkunft erlebt er, nach all den Traumata der Reise, unruhige Nächte, „mit ständigen Unterbrechungen durch die willkürlichen Kontrollen der Wachleute, das Schnarchen und die Schreie“. Erinnerungen an seine Vergangenheit holen ihn ein.
Kocholo, Sebemalet und Ehsan heißen die drei Jungen, die ihre je eigene Fluchtgeschichte erzählen. Ohne ihre Familien sind sie aus Afghanistan, dem Iran und Eritrea nach Europa aufgebrochen und landen als unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Genf, wo sie in einer überfüllten Unterkunft untergebracht werden. „300 Jugendliche auf einem Haufen“, bemerkt Ehsan, „300 zerstörte, traumatisierte Leben.“ – „Seht zu, wir ihr zurechtkommt!“, heißt es gegenüber Sebemalet. Die Jungen fühlen sich ohnmächtig; ihr Papier Blanc berechtigt weder dazu, einen Handyvertrag abzuschließen noch eine Ausbildung zu beginnen. „Das ist kein Leben … das ist Überleben“, klagt Ehsan über den Mangel an Zukunft. Alle drei Erzählungen kreisen um den Suizid von Ali Reza, eines 18-jährigen Afghanen. Kocholo, Sebemalet und Ehsan kannten ihn aus ihrer Genfer Asylunterkunft. „Allein in der Fremde“ schildert, wie sie in der Zeit rund um Alis gewaltvollen
Zusammenstoß mit der Security versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen, voller Hoffnung.
Entstanden ist die Graphic Novel auf Initiative der Genfer Association Carouge Illustration und der Therapeutin Christel Moretto, die bei einer Stiftung Projekte für geflüchtete unbegleitete Minderjährige durchführt. Sie wollte die Schicksale der Asylsuchenden sichtbar machen und abstrakte Asylstatistiken mit konkreten Geschichten versehen – auch für Gleichaltrige, die mit Geflüchteten zur Schule gehen und wenig über Flucht und das Asylsystem wissen.
Fabian Menor, Yrgane Ramon und JP Kalonji haben die Berichte von Kocholo, Sebemalet und Ehsan in ihrem je eigenen Stil bebildert: Menor zeichnet seine Figuren und Szenerien mit filzstiftartig dicken Umrisslinien; die Schilderungen der aktuellen Situation koloriert er in kaltem Blau, die Rückblenden auf Kocholos liebevolle Tante oder seinen auf der Flucht verwundeten Freund Ali in Gelb- und Rottönen. Ramons schwarz-weiße, cartoonartige Kohle- und Graphitzeichnungen sind nur dann in Gelb und Pink koloriert, wenn sich Sebemalet an die Menschen erinnert, die ihm auf der Flucht geholfen haben. Expressiv ist Kalonjis Bildsprache, die mit aquarellierten Flächen und filmisch anmutenden Perspektivwechseln die Gefühle von Ehsan so deutlich werden lässt wie das schroffe Gebirge, das er durchklettern muss, oder die Idylle am Genfer See. Dem Sammelband mit den drei einzelnen Graphic Novels ist eine breite Öffentlichkeit zu wünschen; der Einsatz in Schulen und Ausbildungseinrichtungen wird ausdrücklich empfohlen.
