Schon der Untertitel benennt Raidts Intention, das Thema „Familie“ individuell-biologisch und gesellschaftlich-historisch zu beleuchten. Vor- und Nachsatz zeigen eine sich an den Händen haltende Generationenkette, worin Vor- bzw. Nachfahren in blassem Grau erscheinen, die gegenwärtige Familie jedoch farbig hervorleuchtet. Zu letzterer gehört ein Geschwisterpaar, das die Leser/Betrachter*in durch das Buch begleitet. Fragen oder Kommentare von Junge und Mädchen stehen in Sprechblasen und heben sich deutlich von anderen Textsorten ab. („Ja, aber die müssten dann ja alle ganz alt sein?“ – „Hä, nein, die waren ja auch mal jung“.)
Gestalterisch wechseln erzählende Doppelseiten (ein heutiger Park mit mehreren sich darin tummelnden Generationen; eine Weihnachtsbescherung in einem Wohnzimmer vor 100 Jahren) mit anschaulichen Sachillustrationen (Stammbäume, personenverbindende rote Fäden, Generationspyramiden). Weltweite Familienbeziehungen versinnbildlicht ein verschlungener Faden, der bei genauem Hinsehen Verwandtschaftsgrade (be)schreibt (Schwippschwager, Cousine 32. Grades …). Am Fadenende blickt eine indianische Landarbeiterin mit Kind auf dem Rücken die Betrachter*innen direkt an.
Raidts Blei-und Buntstiftzeichnungen, in Strich und Farbgebung mal zarter, mal kräftiger ausgeführt, wirken konventionell, jedoch korrespondiert der retro-anmutende Stil gekonnt mit den inspirierenden Zeitreisen. Viele Details umkreisen Fragen wie: Was wurde über Generationen weitergegeben und was hat sich, z. B. in der Frauenfrage, zum Glück verändert? Genauer befragt werden auch Begriffe wie „Erbe“ oder „Wurzeln“. Nicht nur Gene, Uromas Kette oder Kochrezepte wurden (und werden) „vererbt“, auch Religionen, Kunstwerke und Erfindungen. Ebenso „erben“ heutige Generationen die Folgen von Umweltzerstörungen und Kriegen, deren Ursachen tief in der Vergangenheit „wurzeln“. Daraus resultieren politische Verwerfungen, welche weltweite Fluchten auslösten und auslösen. Aktuell lautet Raidts Botschaft entgegen der europäischen Abschottungspolitik: „Über viele Ecken sind alle Menschen der Welt miteinander verwandt. Eigentlich sind wir eine einzige große Familie.“ Angemahnt wird somit eine Verantwortung jedes Einzelnen, der auf dieser Welt lebt, über Generationen hinweg. Ausgehend von der Frage „Wer bin ich und was prägt mich?“ bieten Buchstruktur und Themen verschiedene Denkanstöße und Redeanlässe, das Thema Familie in globale Zusammenhänge zu stellen. Dabei können Fragen und Kommentare der oben genannten Geschwister hilfreich sein.
(Der Rote Elefant 36, 2018)