„Irgendwann einmal – es ist lange her, oder vielleicht war es in der Zukunft, niemand weiß es mehr genau – lag tief in einem alten, von Gletschern gegrabenen Tal ein kleines Königreich, vergessen von der Zeit.“ Der karge Boden des abgelegenen Tals erbringt nicht genug Ernte für die Menschen. Eines Tages taucht ein fremder, alter Mann auf, bricht völlig entkräftet zusammen und erzählt – kurz bevor er stirbt – von der Begegnung mit einem Reisenden, der ihm einst goldenes Saatgut gab. Diese vielversprechenden Körner sollen in einem Land weit im Westen zu finden sein. Mit dem Wunsch nach einem besseren Leben für sein Volk bricht Shuna, der Prinz des kleinen Königreichs, gen Westen auf. Auf seinem Weg passiert er menschenleere Weiten und die Überreste früherer Zivilisationen. Als er schließlich auf andere Menschen trifft, erfährt er deren Feindlichkeit und Grausamkeit. Shuna befreit zwei Mädchen aus den Fängen von Sklavenhändlern und überlässt den beiden zur Flucht das Jakkul, sein treues Reittier. Allein überwindet er die Grenze in das Land der sagenumwobenen „Göttermenschen“, wo er den Ursprung der goldenen Samen sucht. Er kommt diesem Geheimnis so nahe, dass es ihn fast seinen Verstand kostet.
Hayao Miyazaki – bekannt als Schöpfer der Anime-Filme von Studio Ghibli – hat die Bildergeschichte bereits 1983 (zwei Jahre vor der Ghibli-Gründung) zeichnerisch umgesetzt. 40 Jahre später ist Shunas Reise erstmals auf Deutsch erschienen. Der Autor und Zeichner schafft seinem Protagonisten eine Welt, die sich aus archaischen, dystopischen und Fantasy-Motiven in zarten Aquarellzeichnungen zusammensetzt. Ein sparsam erzählender Text führt durch die düster-fantastische Geschichte. Miyazaki orientiert sich an dem tibetischen Volksmärchen Der Prinz, der sich in einen Hund verwandelte, das erzählt, wie die Gerste nach Tibet gelangte und das vorherige Grundnahrungsmittel Hirse ablöste. Dieser Grundidee folgend, lässt er Shuna eine Heldenreise durchleben; fremdartig anmutende Wesen und überdimensionierte Landschaften wirken mythisch aufgeladen. Das Ende bleibt letztlich geheimnisvoll und rätselhaft.
Die Lesenden begleiten Shuna auf seinem Weg durch Einsamkeit, Konflikte und Prüfungen. Das auch verstörende Märchen über das Erwachsenwerden und die Herausforderung, Verantwortung für andere zu übernehmen, kann ebenso als eine Geschichte über ökologisch-klimatische Anpassungen im Kampf gegen den Hunger gelesen werden.
Shunas Reise eignet sich als Einstieg in die Kunstform Manga und das umfangreiche Werk Hayao Miyazakis. Zu Beginn einer Veranstaltung könnten Fühlsäckchen mit Hirse- bzw. Gerstenkörnern verteilt werden. Der haptische Vergleich beider Getreidesorten führt direkt in die Geschichte.