Das Drama vom „Jedermann“ (Uraufführung 1911) ist bekannt: Ein reicher, herzloser Mann findet im Angesicht des Todes keinen Beistand. Der Teufel giert nach seiner Seele, aber im letzten Moment bekennt der Reiche seine Schuld und findet Erlösung. Hoffmannsthal griff Motive mittelalterlicher Moralitätenspiele auf, wobei spätere Inszenierungen mal psychologische, mal gesellschaftskritische Aspekte stärker beton(t)en.
Klassisches Stück und alljährliche Salzburger Domplatz-Aufführungen sind europäisches Kulturgut. Das allein rechtfertigt eine kindgemäße Nacherzählung, wie sie Thuswalder in kurzen, prägnanten Sätzen gelang. Deren Nachhaltigkeit wird durch zweimaligen Abdruck gestützt: einmal komplett auf dem Vorsatz und einmal satzweise in die z. T. farblich intensiv ausgemalten, dann wieder zurückhaltend filigran gestalteten Doppelseiten aufgeteilt. Denn das eigentlich Besondere ist die Bildgestaltung, welche Regisseur Julian Crouch, der 2013 eine spektakuläre Neuinszenierung vorlegte, selbst vornahm. Crouch, auch Bühnenbildner und Maskenbauer, hat dem Stück auf der Bühne Aktualität und eine ganz besondere Dynamik verliehen, die im Bilderbuch wiederkehrt. So wie seine Inszenierung mit einer Schauspielerprozession durch die Stadt beginnt, so ziehen auch am Anfang des Buches „übergroße Masken, ein Bär, ein Vogelmensch, Bischöfe … Skelette und viele kleine Teufel“ am Betrachter vorbei.
Das gemischte Völkchen formiert sich am Buchende erneut: weiße Scherenschnittfiguren auf dunklem Grund auf dem Weg dorthin, wo jedermann einmal hinkommt, ins Totenreich. Insgesamt spiegeln sich in Aquarellen und (z. T. computerbearbeiteten) Collagen Zitate des realen Aufführungsortes, expressive Mimik, Schauspielerhaltungen, Bühnenrampe bzw. Bühnenräume und Inszenierungstempo auf beeindruckende Weise. Verwischte Physiognomien der Menschendarsteller deuten an, dass jedermann am Pranger stehen könnte. Die religiöse Grundstimmung des Originals tritt zurück: Die allegorische Gestalt der „Guten Werke“, die an Jedermanns Gewissen appelliert, ist ein etwas kränklich aussehendes kleines Mädchen, die erlösende Instanz nicht Gott, sondern ein Streichorchester von lauter Engeln. Nur der Teufel springt in seiner ganzen Schrecklichkeit in die Seite, vergeblich! Mit Kindern über das Buch zu sprechen, würde natürlich bedeuten, ihnen ein wenig den Blick zu öffnen für die abendländisch-christliche Geschichte, den damit verbundenen Mythos vom Kampf Gut gegen Böse und die in der Gesellschaft angelegten Gegensätze von Arm und Reich. Und mit kindlichen Argumenten könnten Antworten auf die alte philosophische Frage gesucht werden: Was ist ein gutes Leben?
(Der Rote Elefant 34, 2016)