Fabeln sind Weltliteratur. Trotz diffuser Forschungslage setzte sich weitgehend die Annahme durch, dass das entsprechende Genre (lat.: fabula) durch einen griechischen Sklaven aus dem 6. Jh. v. u. Z. namens Aisopos (eingedeutscht: Aesop) begründet wurde, dessen Leben bereits Herodot rekonstruierte. Schon jüngeren Kindern Leben und Werk als einander bedingend nahezubringen, ist ein Verdienst dieses Buches. Diese Bedingtheit zeigt sich im Aufbau des Buches, das in einem nicht sofort erkennbaren Rahmen die im doppelten Sinne „fabelhafte“ Lebensgeschichte Äsops bruchstückhaft (u. a. ohne die legendären Todesumstände) präsentiert. Erzählerisch-stilistisch dem Genre angepasst, fokussiert Lendler auf die grandiose Klugheit des einstigen Sklaven und späteren Herrscherratgebers sowie auf die Jahrtausende währende, weltweite Verbreitung von dessen Geschichten. Darin klug eingebunden sind fabelartige Erzählungen durch Äsop selbst, etwa die vom satten, in Ketten liegenden Hund und vom hungrigen, aber freien Wolf, die als biografische Gleichnisse zu deuten sind.
Das Werk selbst findet sich in Auswahl im Mittelteil des Buches. Die zehn abgedruckten Fabeln, darunter „Die Schildkröte und der Hase“, „Die Stadtmaus und die Feldmaus“ oder „Die Ameise und die Heuschrecke“, weisen die typischen Figurenkonstellationen der Prosa-Kurzform auf. Unter jeder Fabel steht farblich abgesetzt und z. T. recht frei assoziiert die sogenannte Lehre, für „Ameise und Heuschrecke“ z. B. „Ohne Fleiß kein Preis“. Zusätzlich legt der Autor in einem sachlich fundierten und verständlich geschriebenen Nachwort der Zielgruppe seine Rechercheergebnisse dar.
Neben den Textebenen ist das großformatige und vielfarbige Buch vor allem ein Augenschmaus! Auch die Illustratorin trennte gestalterisch Biografie und Werk. Angeregt durch frühe Holzschnitte zu Äsops Fabeln bebilderte Zagarenski das Werk ebenfalls mit Holztafeln. Diese seitenfüllenden, die Fabeln gleichsam liebevoll umspielenden Bilder, gekennzeichnet durch detailreiche Ausschmückungen in kräftig leuchtenden, aber auch zarten Acrylfarben, laden zum Fabulieren auch ohne Textkenntnis ein. Dagegen sind die Biografie-Teile mit Aquarellfarben auf weißem bzw. leicht getöntem Papier gestaltet, wobei die formenreichen Illustrationen historisch-atmosphärisch und märchenhaft zugleich Äsops Weg in die Freiheit und die wohl nie endende Weitergabe seiner Geschichten einfangen. Letzterem dienen auch die wimmelbildartigen Zeichnungen am Buchende. Darin sind Figuren zu finden, die auf nicht enthaltene Fabeln verweisen. Diese animieren zum Nachlesen, können aber auch entsprechend dem Vorbild zu eigenen Fabel-Erzählungen anregen.
(Der Rote Elefant 40, 2022)