Cover: Iris Anemone Paul, Polka für Igor

Ola liebt Geschichten, besonders die von Igor – dem alten Hund ihrer Lieblingstante. Die Tante hat ein Faible für schöne Dinge wie „Cowboystiefel aus Las Vegas, Schallplatten von schüchternen Musikern, traurige Seemänner aus verregneten Hafenstädten, Glitzerleggins von Flohmärkten aus Paris … und struppige Hunde an Bushaltestellen“. An solcher Haltestelle traf die Tante einst Igor. Inzwischen schläft dieser fast den ganzen Tag. Doch wenn Ola die Polka-Schallplatte auflegt und das Akkordeon ertönt, beginnt Igor zu erzählen: vom Leben im Zirkus. Dass er „sieben afrikanische Elefanten durch einen brennenden Reifen springen ließ“, begleitet „von einem Orchester hochbegabter Ziegen, die auf kaukasischen Ukulelen wilde Märsche spielten.“ Er schwärmt von Seiltänzerinnen, „zart wie französische Putenschnitzel“, von üppigen Festmahlen, vor allem aber von der eigenen Beliebtheit … Auch wenn Ola manchmal Zweifel kommen – Igors Geschichten sind einfach wunderbar.

Dieses Bilderbuch ist eine Liebeserklärung an alle phantastischen Geschichtenerzähler, melancholischen Musiker, ausgelassenen Tänzer, schrägen Typen – an das Leben selbst!

Ästhetisch wirkt es wie ein Kunststück aus vergangenen Zeiten! Mit Schutzumschlag! Das Format gleicht der Hülle einer LP; expressive Siebdrucke zieren Cover und Innenseiten. Alle Illustrationen beziehen sich auf Zirkushund Igor, der mit Ola im roten Lehnsessel auf einem schallplattenrunden, schwarzen Teppich sitzt und in Erinnerungen schwelgt. Doch schnell wird klar: Der illustre Zirkus war nur ein kleiner Wanderzirkus! Eine skurrile Gesellschaft von Mensch und Tier in einem Auto mit Anhänger. Ein Zirkuszelt? Fehlanzeige! Die Manege? Die Straße! Das begeisterte Publikum? Verstohlene Blicke hinter Fenstern! Elefanten und Seiltänzerinnen? Keine Spur! Übernachtet wurde am Lagerfeuer … Schneidet Igor auf, verklären sich seine Erinnerungen oder phantasiert er uneingelöste Träume? Auch wenn die Bilder anderes erzählen als Igor, vermittelt sich die Zufriedenheit, die das (Zusammen)leben des fahrenden Völkchens bestimmte.

Erzählt wird damit auch die Geschichte von Olas Tante, die Teil dieses nonkonformen, unkonventionellen Lebens war. Warum sie wohl zu Olgas Lieblingstante avancierte? Antworten darauf geben sowohl die textlosen Doppelseiten, die in ihrer Detailfülle zum Entdecken, Vermuten und Fabulieren einladen, als auch die Doppelseiten mit Text, worin sich die Erzählsituationen (Ola, Igor, Sessel) ständig verändern. Polkatypisch geht es somit in Text und Bild rund. Reale und erzählte Welt drehen sich wie die schwarzen Scheiben auf dem Plattenteller und inspirieren dazu, mit Kindern die Widersprüche zwischen Text und Bild zu umrunden.

(Der Rote Elefant 36, 2018)

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