Schwarz, in unserem Kulturkreis die „unbunte“ Farbe des Todes, des Bösen, der Bedrohung, steht für Dunkelheit, Pessimismus und Unglück. Schwarz be“deutet“ aber auch Individualität, Eigenständigkeit und Machtanspruch. All diese Zuschreibungen passen gut zu „Hänsel und Gretel“, 1812 in der Erstauflage der „KHM“ veröffentlicht. Interessanterweise erschienen 2011 gleich zwei Ausgaben dieses Märchens, in denen Schwarz dominiert. Zwar gab es schon andere nicht gerade „bunte“ Varianten (z. B. Lisbeth Zwerger, 1979; Susanne Janssen, DJLP 2008), doch die Versionen von Lorenzo Mattotti und Sybille Schenker gehören zu den düstersten innerhalb der Illustrationsgeschichte von „Hänsel und Gretel“, obwohl sie sich in ihren Les- und Macharten stark unterscheiden.
Ist Mattottis Interpretation eher philosophisch intendiert, arbeitet Schenker (farb)symbolisch und integriert psychoanalytische Zugänge, z. B. den Dualismus „Stiefmutter-Hexe“. Ausdrucksstarke, mit expressiv-breiten Pinselstrichen flächig ausgeführte großformatige doppelseitige Bilder kennzeichnen Mattottis Interpretation. Nur das wenige – Licht andeutende – Weiß verhindert die totale Finsternis, in der die Kinder, sei es im karg möblierten Elternhaus, im undurchdringlichen Wald oder im sakral anmutenden Hexenhaus, unterzugehen drohen. Alles ist nur angedeutet, schattenhaft, seien es Räume oder Figuren. Bei einigen Bildern muss man sich lange einsehen, bis man etwas erkennt – wie in der Dunkelheit. Die Kinder scheinen existenziell bedroht zu sein, egal wo sie sind. Philosophisch betrachtet, lässt sich dies auf den „Menschen an sich“ beziehen, denn durch die schemenhafte Gestaltung treten Hänsel und Gretel nicht als Individuen in Erscheinung. Nur ganz am Ende deutet sich ein kleiner Lichtblick an, es kommt etwas mehr Weiß ins Bild. Angst, Tod, Freiheit, Verantwortung und Handeln als elementar menschliche Erfahrungen werden damit thematisiert. Der Text (nach der letzten Ausgabe von 1857) ist angenehm zurückhaltend in moosigem Grün auf weiße Seiten gesetzt, so dass die Bilder für sich stehen. Wer das Märchen kennt, bräuchte die Textseiten nicht, denn Mattottis Bilder erzählen es auf kongeniale Weise. Sybille Schenker arbeitet ebenfalls mit Licht und Schatten. Ihre Illustrationen folgen der zu Grimms Zeiten beliebten Tradition des Scherenschnitts und dessen kunsthandwerklich-dekorativem Charakter. Auch die Kleidung der Protagonisten passt stilistisch dazu, Volkstrachten gewannen in der Romantik an Bedeutung. Was Mattotti flächig streicht, zeigt Schenker mit filigranen Schnitten, die sie mit Bleistiftzeichnungen ergänzt. Im Gegensatz zu Mattotti arbeitet sie mit Farben, aber in unaufdringlicher Weise. So scheint im schwarz-weißen Eröffnungsbild ein orange-gelbes Licht durch das offene – ausgestanzte – Fenster des kleinen Hauses nach draußen. Dies korrespondiert mit der Farbe der folgenden Transparentpapierseite, auf der die schwarze Silhouette der (hexenhaften) Stiefmutter erscheint. Durch Überlagerungen der bedruckten transparenten Seiten wird der Blick des Betrachters immer tiefer in den Wald hineingeführt. Und genauso lichtet sich der Wald wieder und man erkennt bereits früh eine Blumenwiese mit einladendem (Collage-)Hexenhaus.
Für letzteres setzt Schenker farbige Papiere mit bäuerlichen Blümchenmustern oder Ornamenten ein, welche sie erst ab „Hexenhaus“ beziehungsreich für Kleidung, Fußboden und Wiese nutzt (Ausnahme: Kleidung von Stiefmutter und Hexe!). Die bekannte Schokoladensorte für Dachziegel und Türeinfassung fällt etwas aus dem gestalterischen Rahmen. Darüber hinaus verwendet Schenker Farben auch symbolisch: das Rot des Ofenfeuers für Gefahr, das Grün am Ende für die Hoffnung … Symbolisch ausdeutbar wären auch der am Ende auftauchende Schmetterling als Zeichen für Wiedergeburt und der Hirsch (mythologisch u. a. Sinnbild des Erlösers, Beschützers und Wegweisers). Das edle, mit Stanzungen und asiatischer Fadenheftung aufwendig gestaltete Buch, geschützt durch einen widerstandsfähigen Klarsichtumschlag, ist vielleicht nicht für den täglichen Gebrauch bestimmt, aber eine bibliophile Freude für besondere Augenblicke.
(Der Rote Elefant 30, 2012)